Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Juni 2024

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Juni 2024. Mit Akne Kid Joe, Wanda, Faber, Gas Wasser Indiepop, Desolat und mehr.

Faber – »Addio«

Faber © Justus von Karger
Faber (Bild: Justus von Karger)

Der gute alte Faber, der sich nach fünf Jahren und »I Fucking Love My Life« wieder einmal mit einem Solo-Album zurückmeldet – 2020 erschien ja gemeinsam mit Sophie Hunger und Dino Brandão ein Album in Schweizer Mundart – will es wieder wissen und steigt gemeinsam mit seiner Band, der Goran Koč y Vocalist Orkestar Band, zu instrumentellen Höhen auf. Auf seinem dritten Werk präsentiert er eine Tour de Force zwischen Indie-Rock, Afrobeat, kathartischem Minimalfolk sowie Operette und dehnt so die Grenzen dessen, was wir als Popmusik verstehen. Er singt auf Deutsch, Schwyzerdütsch, Sizilianisch, fast immer vom titelgebenden Abschied, dem Ende einer Beziehung, wechselt in den lyrischen Ichs und Über-Ichs Gender, Lieben, Überzeugungen. Dramaturgisch also alles höchst anspruchsvoll. Dass die über dreistündigen Pre-Release-Shows, inszeniert wie Theateraufführungen, die Anfang des Jahres durch die Lande zogen, noch immer in aller Munde sind, wundert da nicht. Bislang konnte sich nur das Show-Publikum, das sich das Vinyl im Bundle mit den Tickets geholt hat, an den Stücken zuhause erfreuen, erst knapp ein halbes Jahr später erscheint die Platte regulär. Sollte man sich schon holen.

»Addio« von Faber erscheint am 7. Juni via Vertigo Berlin. Live-Termine: 28. und 29. August, Wien Arena — 30. August, Linz, Frischluft Open — 31. August, Graz, Kasematten. Hier kaufen.

Akne Kid Joe – »4 von 5«

Akne Kid Joe © Andreas Langfeld
Akne Kid Joe (Bild: Andreas Langfeld)

Dass Akne Kid Joe, also die »Jungs von AKJ«, nicht nur richtig abliefern können, sondern auch noch ihr Punk-Herz am linken Fleck tragen – nach drei durchaus erfolgreichen Alben ist das schon ein Kunststück, Sell-Out-Kultur, elendige! – dürfte keine Überraschung sein, das aber schon: Damit auch wirklich alle zu den Solo-Shows der Gruppe – Tourstart übrigens in Österreich! – kommen können, gibt’s gleich drei Ticketpreise, je nachdem, was du dir leisten kannst. In Zeiten von Dynamic Pricing eine Wohltat. Und nach den Abrissen in der Vergangenheit auch schon einmal ein dringender Eventtipp für den Herbst. Das dazugehörige Album, das im Titel sowohl mit der Bewertungskultur als auch mit der Androhung, das »vorletzte« zu sein, spielt, hat’s aber natürlich auch wieder in sich, auch weil drei Jahre seit dem Vorgänger nicht nur eine Ewigkeit sind: So ist auch »4 von 5« ein Abgesang auf die postmoderne Konsumkultur, auf viel zu teure Vintage-Shirts, Weihnachtsalben, auf eine Welt ohne Werte mit Ausnahme von Mindestbestellwerten; kurz: auf all die Scheiße da draußen! Deshalb: Lieber Album holen! 

»4 von 5« von Akne Kid Joe erscheint am 7. Juni via Kidnap Music. Live-Termine: 18. Oktober, Wien, B72 — 19. Oktober, Klagenfurt, Kwadrat. Hier kaufen.

Desolat – »Ückendorfication«

Desolat © Annika Toyah Bode
Desolat (Bild: Annika Toyah Bode)

Was Wien für die Welt ist, ist Gelsenkirchen für Deutschland, nur eben am anderen Ende der Skala. Die am wenigsten lebenswerteste Stadt Deutschlands bringt dementsprechend auch nicht unbedingt happy Acts hervor. Die ortsansässige Szene hat sich eher in härteren Gangarten einen Namen gemacht, man denke etwa an die Trash-Metal-Pioniere Sodom. Auch Desolat aus dem Stadtteil Ückendorf schwimmen nicht oben auf einer Wolke daher, sondern suhlen sich als Neo-Grunge-Gruppe im genrenamensgebenden Dreck, und veröffentlichen beim renommierten Dackelton-Label – u. a. Im Taxi weinen und Drei Meter Feldweg – ihr Debütalbum, nachdem der Fünfer bereits eine EP und mehrere Singles in den digitalen Äther gestellt hat. Darauf werden Desolat ihrem Namen zum Glück nicht gerecht und zeigen auf zehn Stücken (plus 5 Skits) eine sehr schöne und vor allem sehr fein abgestimmte Mischung aus eben sehr viel Grunge, Indie-Rock und Punk. Mit so einer Gruppe als kulturelles Kapital der Stadt muss sich also beim nächsten Mal zumindest der vorletzte Platz ausgehen! 

»Ückendorfication« von Desolat erscheint am 28.6.2024 via Dackelton. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.

Gas Wasser Indiepop – »15 Zoll Maul«

Gas Wasser Indiepop © Jören Gloe
Gas Wasser Indiepop (Bild: Jören Gloe)

Erinnert sich noch jemand an den famosen Song »Leb so, dass es alle wissen wollen« von Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen? Nein? Dann bitte spätestens jetzt nachholen. Der Anlass für das Re-Listening, wie man heute sagen würde: Jochen Gäde, Sänger oben genannter Gruppe, hat eine neue Kapelle am Start. Gemeinsam mit der Instrumentenabteilung von Die Bullen erscheint nun das erste Album von Gas Wasser Indiepop, die Meister Röhrichs des deutschen Indie-Punks und bespielen die Gehörgänge mit sehr routiniertem und warmen Post-Deutsch-Punk, Indie-Pop und auch immer wieder elektronischem Geflickere. Wobei vor allem eben die Stimme immer wieder dominant durch die Gegend nölt und so ganz im Allgemeinen vom eher ausbaufähigen Zustand der Gegenwert wettert, vom Sell-Out an die eigene kommerzielle Verwertbarkeit und all dem Zeug. Durchaus mit überraschend guter Durchhörbarkeit, wie sie dort sagen, wo ebenjene Verwertbarkeit an ihre Grenzen stößt.

»15 Zoll Maul« von Gas Wasser Indiepop erscheint am 28. Juni via Broken Silence. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.

Various Artists – »Der Text ist meine Party«

Der Text ist meine Party Cover © Tapete Records
Der Text ist meine Party Cover (Bild: Tapete Records)

Wer neu in der Hamburger Schule ist, dem sei einerseits das Buch »Der Text ist meine Party – Die Hamburger Schule 1989-2000« von Jonas Engelmann, erschienen im Ventil Verlag, empfohlen, andererseits selbstverständlich und vor allem auch die gleichnamige Compilation, die bei Tapete Records erscheint. Dort hat man sich ja in den letzten Jahren den Ruf als beste Archivare deutschsprachiger Popgeschichte erarbeitet. So finden sich auf dem 18-Song-starken Longplayer neben dem titelgebenden »Party« von Kolossale Jugend verschiedene Akteure der unterschiedlichen Ären, von der Pionierphase mit Cpt. Kirk &. und Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs über die Superstars wie Die Regierung, Die Goldenen Zitronen, Blumfeld, Tocotronic, Die Sterne, bis hin zu den späten 90ern wie etwa die famose Gruppe Sport, JaKönigJa und Kante. Besonders super natürlich: Die Zusammenstellung folgt keiner kommerziellen Logik, wer eine »Bravo Hits: Hamburger Schule« erwartet, wird enttäuscht, ist aber wohl ohnehin nicht die richtige Zielgruppe.

Der Sampler »Der Text ist meine Party – Die Hamburger Schule von 1989-2000« erscheint am 7. Juni via Tapete Records. Hier das Album und das Buch kaufen.

Außerdem erwähnenswert:

Wanda – »Ende nie«

(VÖ: 7. Juni)

Geteiltes Leid ist halbes Leid ist irgendwann kein Leid mehr. Die größte Band der Welt wird auf Album Nummer sechs zum Trauerbegleiter. Und diese Trauer – genährt durch Schicksalsschläge wie etwa den tragischen Tod von Keyboarder Christian Hummer – steht Wanda gut, schließlich schreiben sie als ersten Song »Bei niemand anders«, den besten seit sieben Jahren. Was für ein Album »Ende nie« darüber hinaus geworden ist, könnt ihr hier nachlesen, sowie natürlich in der aktuellen Print-Ausgabe von The Gap. Album hier kaufen.

Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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