Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Mai 2024

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald. Die wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen im Mai 2024. Mit Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys, Belgrad, Karwendel, schubsen, EA80 und mehr.

Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys © Ludwig van Borkum
© Ludwig van Borkum

Belgrad – »Lysis«

Belgrad © Belgrad
Belgrad (Foto: Belgrad)

Alben ohne Vorankündigung sind keine Erfindung der großen Stars, auch die ganz heimlichen Sterne können das gut. Ende April erschien aus dem Nichts das Zweitwerk der Berliner und Hamburger Gruppe namens Belgrad, deren Debüt »Niemand« aus 2017 ein dunkles Monument deutschsprachiger alternativer Popmusik ist. Ganz ohne die Maschen der Promoagenturen, Tiktok-Hypes, Vorabsingles, Interviews und sogar ohne Konzerte, stellen sie »Lysis« in die Regale, ein Titel – er bedeutet entweder das langsame Absinken eines Fiebers oder die Auflösung von Zellen –, der natürlich mehr als nur Omen ist. Es ist definitiv ein forderndes Werk, dieses erste Doppelalbum des begehrten Punk-Labels Zeitstrafe, 75 Minuten erzählt in nur vierzehn Stücken, mit Pro- und Epilog mit mystischem Geplänkel von Schauspieler Jürgen Vogel und sehr viel verklausulierten Texten, etwa in den Kernsongs »Markt essen Seele auf«, »Eine kurze Geschichte der Einsamkeit II« oder »Rachel & Joseph«, in letzterem über ein Paar, das mit »sympathetic murder-suicide« dem Verdursten entkam. Dass es dafür natürlich düsteren Post-Punk benötigt, der auch in seiner Erhabenheit der thematischen Schwere etwas entgegenzusetzen hat, ist selbstredend. Genauso, wie die Conclusio nur sein kann: Das ist schon ziemlich gut.

»Lysis« von Belgrad erscheint am 26. April via Zeitstrafe. Keine Tourdaten in Österreich. Album hier kaufen.

Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys – »Kult«

Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys © Ludwig van Borkum
Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys (Foto: Ludwig van Borkum)

So sehr die letzten Rätsel um die wohl beste Konzeptgruppe der letzten fünfhundert Jahre mittlerweile gelöst sein dürften, so sehr macht der Augsburger (Lotto-)Sechser sein drittes Album »Kult« zum selbigen und bleibt bis zum Schluss enigmatisch: Irgendwann war vom letzten Album die Rede, vom »Abschluss des Triptychon«, das die Barden von Gottes Gnaden von Tarvisio bis Syrakus, an die Spitze der Charts und um die ganze Welt brachte, mittlerweile hört man diese Abschlussgedanken seltener. Es bleibt abzuwarten und das ist gut, denn: Wenn die Hoffnung zuletzt stirbt, kann sie keiner begraben. Die ersten Stücke aus »Kult« tragen natürlich gleich einmal ordentlich zur Kultbildung der Gruppe bei, die süße Trennungsmelodie von »Goodbye, Arrivederci« aus dem regnerischen London ist ebenso wie das zuckersüße »Santorin« – quasi das Gegenteil – wieder RB&DAB-galore, wenngleich für ein ähnlich hohes Top-Niveau wie auf »Greatest Hits« (2020) und »Mille Grazie« (2022) da noch eine Schippe draufgelegt werden muss. Aber es wäre ja nicht die erste Überraschung rund um »Kult«. 

»Kult« von Roy Bianco & Die Abbrunzati Boys erscheint am 31. Mai via Universal. Live-Termine in Österreich: 19. Oktober, Wien, Gasometer. Hier Album kaufen.

Schubsen – »Das Öffnen der Visiere«

schubsen © schubsen
Schubsen (Foto: Schubsen)

Menschen sind nicht nur Herdentiere – Sheeple, wacht auf! –, sondern vor allem auch Gewohnheitstiere, weshalb Kategorisierungen wie etwa »Was anderen auch gefällt« jetzt nicht ganz von der unpraktischen Sorte sind. Wenn bei den Nürnberger Post-Punks Schubsen dann in dieser Einordnung Größen wie Kala Brisella, Peter Muffin oder die ewigen Human Abfall stehen, spitzen wir unser Ohren gleich einmal mit dem Elektrischen. Wenn Stars wie Leute von Turbostaat, Akne Kid Joe und Blond für das Album trommeln, gleich noch intensiver. Und wenn es dann gleich noch einen ordentlichen Backkatalog gibt mit den zwei Alben »Neue Blessuren« (2016) und »Stühle rücken in Formation« (2019) sowie der EP »Sprachfetzen« (2021), ist man gleich einmal einen Nachmittag beschäftigt. Zeit, die sich sowohl für die älteren als auch die neuen Stücke definitiv lohnt, gar leichtgängig finden die elf Stücke ihren Eingang in den Kanon dessen, was 2024 cool ist.

»Das Öffnen der Visiere« von Schubsen erscheint am 17. Mai via Flight 13 Records. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.

Karwendel – »Verbunden sein«

Karwendel © Ralph Baiker
Karwendel (Foto: Ralph Baiker)

Achtung, hier kommt es zweimal anders als man denkt: Erstens handelt es sich bei dem Interpreten nicht um die Gebirgskette in den Nördlichen Kalkalpen – musste googeln –, sondern quasi um das Gegenteil, einen Songwriter aus Hamburg. Zweitens war jener Mann, der in natura Sebastian Król hieß, gerade schon einmal im Fokus auf thegap.at – er ist nämlich nicht nur schwebend leicht instrumentierender Folk-Popper, sondern auch Manager im Musikbusiness und Mitbegründer des Direct-to-Fan-Services Fanklub. Also rein theoretisch müsste Karwendel wohl wissen, wie es geht. Und praktisch? Auch. Es ist ein sehr warmes, sehr langsames, aber kaum langatmiges Popalbum geworden. »Verbunden sein« als Antithese der Entfremdung, was auch im sehr harmonischen Bandsound seinen Ausdruck findet. Als dringende Assoziationen und Use-Cases tauchen Momente des Diskurses auf: Rotweinnächte in WG-Küchen, Elaborationen von gar philosophischem Wert über Ver- und Entwirrung jeglicher Moral, Gespräche über Gut und Böse, Darbietungen von Hü und Hott.

»Verbunden sein« von Karwendel erscheint am 3.5.2024 via Backseat. Keine Termine in Österreich. Hier kaufen.

EA80 – »Single«

EA80 © EA80/Major Label
EA80 (Bild: EA80 / Major Label)

Als die wohl legendärste aller legendären (Post-)Punk-Kapellen Deutschlands, die Mönchengladbacher EA80, 2019, also auch schon vor fünf Jahren, ihren Vierziger feierten, erschien eine 7×7“-Single-Sammlung mit jeweils sechs Stück pro Scheibe, jedes Stück Vinyl von einem anderen Label veröffentlicht. Weil das natürlich wegging wie geschnittenes Brot und der Nussschalenkapitalismus auf Discogs immer seltsamere Blüten treibt, gibt’s ebenjene 42 Songs zum 45er jetzt auch auf Langspielrille. Diese stünde theoretisch schon seit Februar in den Mailordern, aber weil die auch wegging wie nichts, gibt’s jetzt mit Mai noch eine neue Auflage. Und da sollte man dann schon mal zuschlagen. Dass für die ganze Wucht an Songs eine LP reicht, ist dem Ziel geschuldet, maximal eine Minute pro Song zu brauchen – was natürlich irgendwie auch beim Hören mühsam ist, aber so gibt’s wenigstens keine langweiligen Stellen. Wobei, darüber musste man sich bei EA80 noch nie Sorgen machen.

»Single« von EA80 erschien am 9. februar via Major Label, die neue Nachpressung steht ab Mai in den Regalen und Mailordern, vor allem hier. Keine Termine in Österreich.

Außerdem erwähnenswert:

Modecenter – »Altes Glück«

(VÖ: 10. Mai)

Das selbstbenannte Debüt war damals eine Gnackwatschen für alle, die jemals ein »hartes Album« in Österreich aufgenommen hatten. In den drei Jahren hat sich einiges getan, in der Welt und in der Band, 50% tauschen sich aus, Labelwechsel, Sprachwechsel, jetzt auch deutsch. Nur: Dass aus Modecenter richtig gute Musik geknüppelt werden kann, ist beim alten geblieben. Wer mehr wissen, liest in der Rezension nach. Wer jenes »Altes Glück« kaufen will, hier entlang. Wer Modecenter live erleben will, geht am 10. Mai ins Lot Wien oder am 11. Mai in die Kapu Linz. Support, die supergute Gruppe Leber

LD Smash – »Alltagsnummern«

(VÖ: 3. Mai)

Auch über das Debütalbum von LD Smash kann in der Rezension mehr lesen – oder auch in der aktuellen Ausgabe von The Gap. Wer zu faul zum Klicken ist, dem sei unser Teasertext ans Herz gelegt, wo es heißt: »Es gibt einen Markt für hemdsärmeligen Dialektrock mit Ziehharmonika. Und mit LD Smash einen neuen, ernstzunehmenden Marktteilnehmer.« Was er nämlich auf seinen »Alltagsnummern« – Name = Programm – abreißt, sind astreine Melodien für Millionen. Die man etwa hier kaufen kann.

Die Tiere – »Wir wollen nichts«

(VÖ: 3. Mai)

Ex-Muff-Potter-Gitarrist Dennis Schneider wird zum deutschen Eric Burdon und veröffentlicht mit seinem neuesten Solo-Projekt Die Tiere die erste EP. Geboren in den Trümmern der Pandemie, genährt von der Liebe zur Gitarrenmusik und gestählt durch das feine Austarieren ebensolcher in balancierte Hits, entstehen fünf Songs über das Losziehen, über »das Schöne hinter dieser Tür«, den Zauber der Welt da draußen. Hier hörbar.

Die bisherigen Veröffentlichungen von Dominik Oswalds Reihe »Muttersprachenpop« finden sich unter diesem Link.

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