»Ein Abschied ist auch eine Befreiung« – Filmemacherin Nina Kusturica im Interview zu »Ciao Chérie«

In ihrem neuen Film »Ciao Chérie« setzt Nina Kusturica einen Call-Shop in Wien in Szene. Die Festnetztelefone läuten und die ProtagonistInnen ringen um Verständnis; es geht um Sehnsucht und Aufbruch, Angst und Hoffnung, das große Leben in den kleinen Gesten. The Gap hat die Filmemacherin zum Gespräch gebeten.

© Thimfilm / Roland Ferrigato — Wien-Premiere von »Ciao Chérie«; vorne (v. l. n. r.): Mahamad Abdiasis, Emanuel Fort, Nina Kusturica, Nahoko Fort-Nishigami und Ayo Aloba; hinten: Ayuub Mahamad, Laura Selimovic, Simonida Selimovic, Sikavi Agbogbe, Erika Vitali und Rade Jovanovic

Die Straßenbahn rattert vorbei, drinnen reihen sich verglaste Kabinen aneinander, in diesen: Festnetztelefone. Für viele Menschen ist Kommunikation in einem solchen Setting ein Relikt vergangener, analoger Zeiten, für die ProtagonistInnen in Nina Kusturicas neuem Film »Ciao Chérie« stellen diese Telefone jedoch eine Möglichkeit dar, Kontakt zu ihren Liebsten aufzunehmen. Alle Figuren eint, dass sie ihre Geburtsländer verlassen haben und dass sie nun in Österreich sind.

In ihrem dialogzentrierten und mit Laien sowie Profi-SchauspielerInnen realisierten Film gibt Nina Kusturica ihren ProtagonistInnen viel Raum und sie verschafft gleichzeitig Menschen Gehör, die im öffentlichen Diskurs oftmals (stumme) Objekte und nicht Subjekte sind. Mit The Gap hat die Filmemacherin über den Verlust des gesprochenen Wortes und die Faszination von Nicht-Orten gesprochen, über fehlende Zwischentöne in der Migrationsdebatte und mangelnde Diversität in der österreichischen Kulturlandschaft.

Dein neuer Film »Ciao Cherié« kann als Fortsetzung zu »Little Alien« betrachtet werden. Wie hast du dich dem Thema angenähert?

Nach »Little Alien« blieb für mich noch einiges offen, vor allem hinsichtlich der Frage, wie weit eine Dokumentation gehen kann. Während des Drehs habe ich mir oft gedacht, dass ich noch gerne einen weiteren Spielfilm zu diesem Thema machen möchte, da ein fiktionaler Film die Gefühlswelt der ProtagonistInnen noch besser erfassen kann als eine Doku. Zudem hat mich auf der Suche nach einem neuen Stoff das Thema Sprache und Sprechen interessiert. Wir sehen aktuell einen Verlust des gesprochenen Wortes, alle texten nur noch. Wir schicken uns Nachrichten und Fotos, wir machen alles, um nicht miteinander sprechen zu müssen. Die Kombination daraus hat mich auf die Call-Shops aufmerksam gemacht. Es gibt sie ja überall, nicht nur in Wien.

Ich wurde neugierig und wollte wissen: Wer besucht diese? Was ist da los? Welche Geschichten spielen sich da ab? Dadurch ist für mich alles zusammengekommen: das Interesse, Figuren, die in ein anderes Land gekommen sind, weiter zu beobachten, zu sehen, was mit ihren Leben passiert. Was beschäftigt sie, wenn die dringenden Angelegenheiten fürs Erste erledigt sind? Wie steht es um ihre Gefühle? Darüber wird in der ganzen Migrationsdebatte, die sehr technokratisch ist, nicht gesprochen. Da geht es nur um Paragraphen und Papiere. Aber da ist ein Mensch mit seiner ganzen Lebensgeschichte, mit der ganzen Gefühlswelt. Dieser Mensch steht einem System gegenüber, das das alles nicht wissen will. Weiters haben mich Telefonkabinen und deren Fokus auf das gesprochene Wort fasziniert. Was löst das in uns aus? Der Titel des Films – »Ciao Chérie« – ist Begrüßung wie Abschied, daher kann er ein bisschen als Hommage an das Festnetztelefon und die analoge Welt betrachtet werden.

Der Film spielt gänzlich in einem Call-Shop. Was macht so einen Ort interessant für dich und deine Message? Und an welchen anderen Orte hätte deiner Ansicht nach dieser Film auch funktionieren können?

Die Call-Shops haben mich fasziniert, da sie Orte sind, die wiederum Orte beinhalten – nämlich die Kabinen. Das hat mir filmisch so viele Möglichkeiten gegeben: Was kann man mit diesem leeren Raum, der im Breitformat zu sehen ist, noch assoziieren? Und was spielt sich gleichzeitig auf der Tonebene ab? Natürlich habe ich auch an Tankstellen oder Hotels gedacht, also an Nicht-Orte, die Menschen aufsuchen, wenn sie nicht gerade woanders sein können. Ein solcher ist nämlich auch der Call-Shop. Ich fand es spannend, das zu erforschen. Was passiert bei diesen flüchtigen Begegnungen, wenn Menschen von überall zusammenkommen? Was passiert eben an diesen Orte, an denen man sich nicht verorten kann, weil sie eben nur ein Durchgang sind? Die Faszination für den filmischen Raum, den der Apparat Telefon eröffnet, war schlussendlich ein weiterer Grund für mich, den Call-Shop auszuwählen.

Deine DarstellerInnen sind teils Profis, teils aber auch Laien. Der Stil des Films ähnelt in manchen Sequenzen einer Dokumentation. Was waren die Herausforderungen bei so einer Herangehensweise?

Das Zusammenspiel der Profis und Laien war mitunter die größte Herausforderung – es musste organisch wirken. So eine Vorgangsweise kann man nicht mit einem Film, der nur mit SchauspielerInnen besetzt ist, vergleichen. Im Casting-Prozess war es daher wichtig, Laien zu finden, die eine beiläufige Natürlichkeit mitbringen. Während des Drehs selbst gab es aber ebenso Herausforderungen: Wir haben an einem Originaldrehort gedreht, der nicht immer abgesperrt war. Mehr als die Hälfte der Drehtage fanden bei geöffnetem Geschäft statt. Hierbei haben meinem Team und mir unsere Erfahrungen aus dem Dokumentarbereich geholfen, da wir schnell auf Begebenheiten reagieren und immer alles im Blick behalten mussten, um Situationen gut einfangen zu können, ohne aus der Erzählung auszusteigen. Aber auch um Szenen zu inkludieren, die ursprünglich nicht geplant waren.

Wir haben in einem Team von fünf Leuten gearbeitet, das ist für einen Spielfilm sehr ungewöhnlich. Ausstattung und Kostüm haben wir selbst gemacht. Unser Kameramann war auch für das Licht zuständig, da wir ein sehr kleines Budget hatten. Eine weitere Herausforderung war, mit den Räumlichkeiten vor Ort umzugehen, daher wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, mit einem größeren Team zu drehen. Die größte Herausforderung war aber wohl, dass dieses One-Location-Movie dennoch Räume aufmacht, dass der Film nicht klaustrophobisch wirkt, und das ist uns – hoffe ich – durch die Glasflächen und die Kameraführung gelungen. Es war uns wichtig, dass es kein geschlossener Film ist, obwohl er nur an einem Ort spielt.

Nina Kusturica © NK Projects

Der Film lebt ja von den Dialogen, den Gesprächen der ProtagonistInnen mit ihren Liebsten am anderen Ende der Leitung. Inwiefern waren diese Geschichten für dich a priori gegeben? Wie bist du da konkret vorgegangen?

In der Vorbereitung habe ich natürlich zuerst ein Konzept geschrieben, darin ging es um die Faszination für diesen Raum und diese Telefone und die Menschen, die dorthin kommen. Es war mir schnell klar, dass ich nicht alle Rollen mit Profis besetzen kann, sondern, dass ich mit Laien arbeiten werde – denn wir haben in Wien etwa kaum Profischauspieler aus dem Senegal, Somalia oder Togo. Oder zumindest habe ich sie nicht gefunden. Ich wusste, dass ich, bevor ich das Buch präzisiere, zuerst einmal Rollen vergeben muss. Dann haben wir bei Castings ganz viele Leute getroffen und ich habe Geschichten, die ich mir zuvor überlegt hatte, mit den Leuten probiert. Mir ging es darum, dass die DarstellerInnen Aufrichtigkeit besitzen. Bei einem Probedreh wurden dann die Geschichten verteilt. Schlussendlich waren dann alle Laien mit ihren Rollen zufrieden, da sie mir zuvor auch stets Feedback gegeben hatten.

Und bei den Profis war es ohnehin klar, dass sie das spielen können und dass sie die Dialoge auswendig lernen. Bei den Laien habe ich zwar die Geschichten und die Richtung vorgegeben, aber sie mussten nichts auswendig lernen – das geht nicht. Zudem würde dieses Handwerkliche auch eher ihr Spiel stören. Die Themen der jeweiligen Gespräche haben wir aber festgelegt und während des Gesprächs habe ich mich manchmal eingemischt und Weisungen gegeben. Manchmal habe ich auch per SMS Regie geführt, das war sehr lustig. Manche der DarstellerInnen waren ja nicht vor Ort, sondern nur per Telefon zu hören – wie etwa der Liebhaber aus Rom, der war wirklich in Rom. Seine Stimme haben wir nämlich am spannendsten gefunden.

Wie hast du überhaupt die LaiendarstellerInnen gefunden?

Das Problem bei Agenturen für Laien ist ja, dass die vermittelten Personen fast keine Laien mehr sind. Deswegen waren wir oft in Call-Shops und haben dort Casting-Einladungen an Leute vergeben, die schon etwas mit diesem Setting anfangen konnten. Viele haben wir also so eingeladen. Dann haben mich ein paar Regiekolleginnen, die auch mit Menschen unterschiedlicher Herkunft arbeiten, in ihre Unterlagen sehen lassen. Ich hatte wunderbare Unterstützung von wirklich tollen Frauen. Über diese Kolleginnen haben ich eher Profis gefunden, und Nora Friedel hat sehr viele Laien gecastet.

Nächste Seite: das Spiel mit dem Medium Film, die mediale und kulturelle Repräsentation von MigrantInnen und die Frage, ob gegenseitiges Verständnis möglich ist.

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