Auf der Suche nach der Kindheit – »27 Storeys« von Bianca Gleissinger

Bianca Gleissinger setzt sich am Ort ihrer Kindheit, dem Wohnpark Alterlaa, mit persönlichen Erinnerungen und Generationenkonflikten auseinander. Ihr Film »27 Storeys« feiert bei der Diagonale in Graz seine Österreichpremiere.

© Klemens Koscher — Die Türme von Alterlaa sind ein markanter Fixpunkt am Wiener Stadtrand.

27 Storeys, also 27 Stockwerke, so hoch ist das höchste Gebäude des Wohnparks Alterlaa. Die Anlage im Süden Wiens wird immer wieder international als das Paradebeispiel für leistbares Wohnen mit Lebensqualität angeführt. In Zeiten, in denen die Mietpreise in den Städten global explodieren, in denen Regierungen keine Deckelung dafür durchsetzen, zeigt Alterlaa, wie es anders gehen könnte.

Hier ist in den 1990ern und frühen 2000ern die Filmemacherin Bianca Gleissinger aufgewachsen. Dem Ort ihrer Kindheit hat sie mit »27 Storeys« ein filmisches Denkmal gesetzt. Die Idee dazu kam ihr, als sie in eine dieser Städte zog, in denen leistbares Wohnen ein Problem ist: Berlin. »Ich habe den Leuten gesagt, dass ich im sozialen Wohnbau aufgewachsen bin. Das ist in Deutschland anders konnotiert als in Österreich«, erklärt Gleissinger im Gespräch. »Da wurde mir unterstellt, ich hätte eine schlimme Kindheit gehabt.« So entstand die Motivation, noch einmal zurückzukehren und zu schauen: »Was ist das eigentlich für ein Ort? Warum funktioniert anderswo das soziale Wohnen nicht? Und warum habe ich das Gefühl, als reicher Mensch aufgewachsen zu sein?«

Grünflächen gibt es in Alterlaa mal groß für die Gemeinschaft, mal klein und privat. (Foto: Klemens Koscher)

Alterlaa hat wenig damit zu tun, was man in Berlin unter Sozialbau verstehen würde. Das liegt auch am Architekten Harry Glück, der 1966 seine Devise so formulierte: »Wohnen wie die Reichen für alle«. Daher finden sich heute auf einem Areal von 240.000 m² ungefähr 3.200 Wohnungen mit einer Größe von je 74,5 m² für insgesamt 9.000 Personen sowie ein Einkaufszentrum, Ärztezentren, Schulen, Kindergärten, Spielplätze, Tennisplätze und Grünflächen in Parkgröße. Alterlaa ist eine Stadt innerhalb einer Stadt. »Wir waren Harry Glücks Glücksutopie«, so Gleissinger.

Suche nach Vergangenheit

Nachdem sie 2018 das erste Filmkonzept erstellt hatte, musste sie immer wieder zur Recherche nach Wien zurückkehren. Eine Konfrontation mit der eigenen Erinnerung. »Ich habe keinen Bezugspunkt mehr in der Gegenwart, an den ich hätte zurückkehren können. Meine Wohnung gibt es nicht mehr.« Also musste die Geschichte andersherum aufgezäumt werden. Sie habe sich, so Gleissinger, mit der Frage auseinandergesetzt, wie denn eine Rückkehr aussehen könne. Diesen Ort der Vergangenheit könne sie nur metaphorisch in sich selbst suchen, weniger als geografische Präsenz. »Ich bin dann auf die Frage nach der Lebensrealität von Kindern, den Werten meiner Eltern und des Ortes umgeschwenkt.«

Diese Verbindung zwischen Kindheitserinnerungen und der Gegenwart führte auch zu Herausforderungen: »Die Menschen haben mich noch von früher gekannt. Aber ich hatte nicht die Freiheit, die Geschichten von damals für meinen Film zu verwenden.« Man muss nochmals an den Ort gehen und den Leuten neu begegnen. Menschliche Unikate finden sich definitiv in »27 Storeys«. Edi und Gitti, die als große Freddy-Quinn-Fans ein Museum zu Ehren des Musikers betreiben. Julius Ehrlich, der seit Jahren als »Bürgermeister« des Wohnbaus dessen Geschicke lenkt. Oder auch Peter, selbst ein passionierter Filmemacher, der frisch zur Fertigstellung Alterlaas in den 70ern mit seiner Frau einzog. Seine Videoarbeiten vom Bau sind ein seltenes, faszinierendes Zeitdokument.

Bianca Gleissinger, Regisseurin von »27 Storeys«: »Warum habe ich das Gefühl, in Alterlaa als reicher Mensch aufgewachsen zu sein?« (Foto: Klemens Koscher)

Fast alle von Gleissingers Prota­go­nist*innen befinden sich bereits in einem späten Lebensabschnitt. Die Einschätzung mancher, Alterlaa sei auch das »größte Altersheim Österreichs«, scheint nicht weit hergeholt. Auch das ist ein Aspekt, den Gleissinger vorsichtig in ihren Film einwebt. Die Progressivität eines Wohnkonzeptes, dass gleichzeitig an seiner Festgefahrenheit erstickt. Rund 30 Klubs hat die Gemeinschaft in Alterlaa, unter anderem den der Modellbauer*innen, den der Schneider*innen oder den Foto- und Videoklub. Dabei tut sich die Kluft zwischen den Generationen am offensichtlichsten auf: Jüngere Menschen sind hier nicht zu finden. Für die Jungen, so ein Mitglied des Tischtennisklubs, sei Alterlaa ein Ort, an den »komm ich am Abend zurück und schlaf da«. Für sie, die Älteren, sei es aber noch »der Ort, wo ich zu Hause bin«.

Ob ihre Protagonist*innen denn glücklich seien, als aussterbende Gattung gezeigt zu werden? Gleissinger lacht. »Ich war begleitet von der Sorge, dass mir das negativ angerechnet wird. Doch die haben das bis jetzt alle mit dem nötigen Humor gesehen.« Generationenkonflikte liegen in der Natur der Sache. Aber diese stehen im Kontrast zu individuellen Begegnungen. Wie jene mit Hobbyfilmer und Witwer Peter, der während der Dreharbeiten verstorben ist. An seinem Beispiel zeigt sich die Vergänglichkeit der Bewohner*innen. Seine über Jahrzehnte kaum veränderte Wohnung muss sich nach seinem Tod einer Renovierung beugen. Wie bei Gleissinger, die ebenfalls ihre nun komplett anders aussehende Kindheitswohnung besucht, verwischen sich die Spuren abrupt. Das einzige Zeugnis von Peters Existenz ist das Fenster zwischen Küche und Wohnzimmer, eine Maßanfertigung aus den 70ern.

»Lebenszyklus abbilden«

Das Ende eines Lebens zu zeigen, entwickelte sich für Gleissinger zu einem wichtigen Motiv. »Die Menschen, die ich getroffen habe, haben mir erzählt, dass Alterlaa für sie ein Ort ist, wo man alt werden und sterben kann. Das hat sich organisch eingewoben, dass ich da einen Lebenszyklus abbilde.« Auch persönlich habe Peters Tod sie sehr bewegt. Er war der Protagonist ihres ersten Drehtages gewesen, man ist über die Jahre in Kontakt geblieben. Aber, so wie er seiner Frau mit seinen Videos ein Denkmal gesetzt hatte, so war auch für Gleissinger klar, dass sie seine Geschichte in den Film mit reinnehmen müsse.

Die eigene Kindheit hat Gleissinger bei dem Dreh nicht wiedergefunden. Aber, diese ist auch weniger an einen Ort gebunden als an eine Erinnerung, einen Moment in der Zeit. Eine Rückkehr steht daher vorläufig nicht am Plan. »Glücklich sein heißt, erst mal alles anders zu machen als deine Eltern«, sagt Gleissinger im Film. Dazu gehöre, von daheim wegzuziehen, eine kleine Emanzipationsgeschichte zu durchlaufen. »Alterlaa hat sich von dem, wie ich es damals wahrgenommen habe, zu dem, was ich jetzt angetroffen habe, natürlich verändert.« Aber würde Berlin irgendwo im Stadtteil Wedding, Gleissingers Wohnviertel, eine ähnliche Anlage aufziehen, würde sie sich einen Umzug definitiv überlegen. »Diese großen grünen Balkone, da geht nichts drüber.«

»27 Storeys« feiert im Rahmen der Diagonale ’23 seine Österreichpremiere, am 22. März um 21 Uhr im KIZ Royal Kino 1. Am 23. März um 10:30 Uhr im KIZ Royal Kino 2 wird der Film ein zweites Mal gezeigt. Am 2. Juni läuft »27 Storeys – Alterlaa Forever« regulär in den österreichischen Kinos an.

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