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Beim Europavox in Brüssel stimmte nicht alles zusammen. Trotzdem braucht es diese Blicke ins Abseits europäischer Popmusik.

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Das Festival Europavox findet alljährlich im Herzen der französischen Pampa statt: in Clermont-Ferrand, einem beschaulichen Städtchen, ungefähr so groß wie Innsbruck, am Rand des Zentralmassivs. Angeblich gibt es dort viele Studenten. Clermont-Ferrand ist auch die Hauptstadt der Auvergne, und die Heimat des ehemaligen französischen Staatspräsidenten und großen Europäers Valéry Giscard d’Estaing. So spielt es wohl nicht nur mit dem Zufall, dass das Europavox einmal jedes Frühjahr ausgerechnet in der Auvergne stattfindet; dass mit viel Aufwand eine beachtliche Zahl Musiker, Bands und Journalisten aus allen Ecken Europas ins französische Niemandsland eingeflogen werden, um die kulturelle Vielfalt Europas beim „Europavox“-Festival zu feiern. Neuerdings wandert das Festival noch dazu einmal im Jahr aus. Nämlich in jenes Land, das gerade den Ratsvorsitz der Europäischen Union innehat. Für den Dezember 2010 bedeutete das: Belgien, genauer gesagt Brüssel.

Drei Tage dauerte das Festival hier, bespielte drei Konzertsäale im Brüsseler Botanique. Ja, das Lineup war als Ableger nicht so hochkarätig wie das französische Mutterschiff, wo auch schon ein beschädigter Poet wie Pete Doherty gespielt hat. Erste Auffälligkeiten in Brüssel: Naive New Beaters, Wildbirds & Peacedrums, Lonely Drifter Karen. Nichts, was hierzulande garantiert Hallen füllt.

Bildungsauftrag

Bald schon offenbarte sich eine weitere Spaßbremse, die so ähnlich bei vielen dieser staatlich gelenkten Kulturinitiativen greift. Das Festival dockte nicht dort ganz an, wo Pop normalerweise stattfindet. Ein Organisationsteam mietet sich ein, kennt nicht die einschlägigen Kanäle und Multiplikations-Netzwerke wie das Leute vor Ort könnten. Sicher, man hat dazu gelernt. Es funktioniert immer besser – Leute erreichen. Aber eben noch nicht ganz. Und der Bildungsauftrag kostet. Mit der Vorgabe aus jedem Dorf einen Hund, also aus den Ländern Europas Bands nach Brüssel zu holen, lässt sich auch nicht ganz einfach der Aufwand für Flüge, Unterkünfte, Steuern und Gagen wieder einspielen. Aber das ist eben für was das Europavox stehen soll: der Reichtum europäischer Popmusik. Und so viel sei verraten: es gibt diese Überraschungen, jene Bands, die sonst seitlich der eigenen Scheuklappen spannende, manchmal sogar beeindruckende Musik machen.

Re-Lokalisierungen

Eine Sache bei all der Vielfalt: Pop ist häufig lokale Musik, funktioniert eben dort und muss auch nicht immer in die große Welt hinaus. Rock, Disco, HipHop, Techno oder Witch House werden laufend re-lokalisiert und für die lokalen Eigenheiten adaptiert. Da funktioniert dann HipHop aus Amstetten eben auf der europäischen Bühne oft nicht. Oder überhaupt Musik, die stark von Worten abhängig ist. Man kann sich auch vorstellen, dass Kreisky, Kamp oder Skero vor einem Haufen belgischer Jugendlicher nicht ganz so gut ankommen; aber selbst hierzulande gefeierte Acts wie Bunny Lake, Francis International Airport oder Violetta Parisini, die doch angeblich so international klingen, tun sich im freundlichen Ausland, oft schon in Deutschland schwer. Ist auch keine Schande. Aber ein ähnliches Gefühl beschleicht einen mitunter beim Europavox. Dass man nämlich manches so ähnlich schon öfters gesehen hat. Nicht unbedingt besser, manchmal besser. Die einzigartigen Ansätze sind jedenfalls spärlich gesäat.

Die verheirateten Schweden von Wildbirds & Peacedrums wären davon etwa die Ausnahme. Meistens ist bei ihnen nur etwas sachtes Geklöppel am Schlagwerk und die Stimme von Mariam Wallentin zu hören. Selten gesellen sich vorsichtig Steel Drums oder ein Chor von über 20 Stimmen dazu. Insgesamt wirkt das dann manchmal etwas geheimniskrämerisch bis fast schon künstlerisch verschwurbelt, fällt aber auf der Bühne ziemlich einzigartig aus. Oder My Awesome Mixtape aus Italien. Die waren wie eine tänzerische, manchmal mit Elektronik und Bläsern aufgebrochene Version von At The Drive-In. Unterhaltsam und ungewohnt. Und da war dann Instrumenti aus Lettland. Instrumenti pressten mit einem Selbstverständnis wunderliche Melodien und Einfälle hervor, waren sowieso wunderlich angezogen, coverten Kanye West, schlossen R’n’B und Pop und Indie miteinander kurz und waren definitiv einer der Höhepunkte des Europavox.

Am Boden

Nun, ganz so lustig war es nicht immer. Der erste Tag des Festivals, Donnerstag, führte in die Irre, weil es an den beiden weiteren Tagen wesentlich jünger zuging. Donnerstag war World Music Themenabend für die etwas älteren Semester, die es ja nicht mehr so laut und wild vertragen. An den beiden anderen Tagen: Igor Boxx ist auf dem Label Ninja Tune daheim, doch seine audiovisuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Heimatstadt Wroclaw (Breslau) fiel allzu flach aus. Marsheaux aus Griechenland warten wohl schon sehnsüchtig auf die Reunion von Ladytron. Und Julian Paretta meinte ganz offenbar, dass Maroon 5 der Gipfelpunkt abendländischer Kultur ist. Äh, die Bar ist draußen? Was für ein Glück.

Atmosphärisch war das Botanique ein denkbar günstiger Ort. Die Bands waren etwas seltsam angesetzt – nämlich teilweise mit denselben Beginnzeiten in zwei von drei Säalen. Kaum besser hätte dafür Sound und Licht sein können. Eine derartige Omega-Batterie an Spots, Lampen, Leuchten, LEDs, Laser und auch mal Nebel – aber immer dezent und stimmungsvoll eingesetzt – kann man auf so engem Raum in Wien nirgends finden. Selbst unter der besinnlichen Kuppel der Rotonde, in der zumeist Amphitheater-haft gesessen wurde, hängte auf jeden Quadrat-Dezimeter bis vier Meter in die Höhe ein Lichtmacher.

In eben dieser Rotonde spielte fast ganz zum Abschluss des Europavox’ auch Lonely Drifter Karen. Offiziell aus Österreich lebt die Band eigentlich mittlerweile in Brüssel und Barcelona. Ihr Auftritt glich einem eleganten Wiegenlied für die Festivalbesucher mit einer Prise Varieté. Die träumerischen Songs wurden souverän vorgetragen, aber nicht ohne einen Hauch von charmanter Zerbrechlichkeit. Unterstützt und getragen wird Lonely Drifter Karen von der Stimme von Tanja Frinta, die – für diese Art von Musik sehr ungewöhnlich – fast gänzlich ohne barocke Stimmmodulationen, Vibratos oder 3D-Effekte auskommt. Möglicherweise wirken ihre Songs genau deshalb so direkt. In Frankreich sind sie mindestens so bekannt, wie in ihren sonstigen Heimatländern Spanien, Italien, Österreich oder Schweden.

Hinterher: das Europavox konnte immer wieder diese blinden Flecken entfernen, schaffte es Bands an einem Ort zu versammeln, die sonst fast gar nicht am Radar von Blogs, Websites und Magazinen liegen und die normalerweise jeder Importeur ablehnen würde, weil es sich ja angeblich ohnehin nur 17 Mal verkaufen würde. Mit dem Netzwerk an Informanten, das sich die Festivalleitung des Europavox mittlerweile aufgebaut haben, spielen sogar durchwegs jene Bands am Festival, die in ihren Ländern als eine der besseren Vertreter ihrer Kunst gelten. Wobei: in Clermont-Ferrand; in Brüssel nicht so sehr. Für das junge Brüsseler Publikum – ja das gibt es auch, nicht nur gesetzte Hochkultur-Eurokraten – ist das Festival ein sehr leistbarer Schnupperkurs in europäischer Musikkultur. Internationaler Festivaltourismus ist damit wohl nicht zu machen. Muss ja auch nicht.

Das Europavox findet einmal jährlich in der französischen Auvergne statt und versammelt Artists aus ganz Europa. Seit heuer tourt das Europavox in einer reduzierten Version auch durch die Länder des Ratsvorsitzes der EU.

www.europavox.com

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