Sickster

Sick of it all – Aus der westlichen Gesellschaft der 30-Jährigen schnitt Thomas Melle mit chirurgischem Scharfblick und Sprachmesser die gültige Analyse der Zehnerjahre.

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Thirtysomethings: auf Dauer gestellte hyperaktive Teenager, globalisiert bis zum letzten Quantum des Energy-Drinks und Koks-Tütchens; irgendwie auf Ökonomie, Nachtgespensterdasein, Sex. Identität war noch greifbarer, als man am Bonner Gymnasium eine Clique war, so Magnus Taue, der in dieser an Silvester stets noch abhängt. Die einen sind erfolgreich geworden und filmen sich beim Poolsex, die anderen wie er pendeln zwischen Projekten und verwesenden Ambitionen. Alt-68er wie seine depressive Mutter oder gesellschaftliche Direktiven wie Hartz IV durchsetzende Politiker finanzieren trotzdem kein Drehbuch, also tritt sich Magnus selbst in den Hintern in Richtung RADIKAL. Im 21. Jahrhundert heißt aber bloß ein Mineralölkonzern so, dem er fortan als von ihm so genannte PR-Worthure dient. Und dort trifft er auf Thorsten Kühnemund, 37, Manager der Tankstellenshops, wie er ein Absolvent des Bonner Elitegymnasiums. Einst älterer Held, nun Vorgesetzter, rast Thorsten durchs Hamsterrad des Leistungsprinzips; angetrieben von Umsatzzahlen, ob diese in Konzerndaten, eingenommenen Drogen oder Sex außerhalb der Beziehung messbar sind. Aufmerksamkeit ist auch das Kapital, nach dem Thorstens Freundin Laura hechelt. Sie aber, wesentlich jüngere Jus-Doktorandin, sucht es über Schnitte in die eigene Hand. Borderliner sind sie alle drei, Grenzgänger zwischen der offenen Welt des Internet und der Enge an Handlungsfreiheit, in die sie selbst sich einzwängten. Und so landen sie wie andere manisch, depressiv oder psychotisch gewordene Wohlstandsverwahrloste in der Nervenklinik, die sie auf Unauffälligkeit umzupolen versucht, wo sie sich aber Tricks aneignen, um aus vermeintlicher Erfolglosigkeit mediales Kapital zu schlagen. Melle, 1975 in Bonn geboren, arbeitete nach seinem thematisch vielschichtigen wie stilistisch vielseitigen Erzählband »Raumforderung« (2007) vorwiegend für das Theater. Seine dort erprobte Szenengenauigkeit findet man nun auch in Romanform wieder, ebenso den Furor, mit dem er in diversen Blogs agierte. Gesellschaft sezierend und selbstreflexiv wie Rainald Goetz hält uns Melle einen Spiegel hin, in dem nach Ich-Authentizität gefragt wird. »Freiheit macht arm«, wie Diederichsen es bereits 1993 postulierte? Mitnichten. Riskieren wir, aber unser /originäres/ Selbst.

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