Das Streichelinstitut

Zärtlichkeit gegen die Krise!

Ein Streichelinstitut in Zeiten sozialer Kälte? Clemens Bergers Roman spinnt diese ökonomisch wie zwischenmenschlich faszinierende Idee als Utopie weiter.

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Sebastian ist ein sensationeller Streichler, beruhigend und aufregend zugleich – findet zumindest Anna, seine Freundin. Die Idee, diese Fähigkeiten zu professionalisieren und ein „Streichelinstitut“ zu eröffnen, bleibt zunächst nur ein Hirngespinst, ehe bei den beiden die Erkenntnis eintritt, dass es in dieser kalten Welt des Gestresstseins doch eine kommerziell verwertbare Sehnsucht nach Zärtlichkeiten auch oberhalb des Nabels geben muss. Im Institut „Caress Caress“ in einer kleinen Wohnung im siebten Gemeindebezirk gibt Sebastian, dessen Streichel-Ich Severin Horvath heißt, schon bald Streicheleinheiten um 75 Euro im 45-Minuten-Takt. Ganz Wien ist begeistert und strömt in die Mondscheingasse, um dort jene nichtsexuelle Zuneigungen zu erhalten, die offensichtlich im Alltag vermisst werden. Sebastian – dessen Freundin Anna als Lektorin von Foucault-Seminaren an der Wiener Uni ein wenig dazuverdient – witzelt anfangs noch über die „Lumpenbourgeoisie“, die bereit ist, für spirituellen Firlefanz Geld auszugeben, doch schon bald ist aus dieser ein ernst zu nehmende „Zielgruppe“ geworden. Durch die dabei nicht vermeidbaren emotionalen Verwicklungen kommt es, wie es kommen muss: Zeitweise beinahe schizophren, fällt es Sebastian zunehmend schwer, Beruf und Privates zu trennen. Als auch noch die wichtigste Regel, keine Berührungen unter der Gürtellinie, gebrochen wird, gerät seine Welt endgültig ins Wanken.

Der dritte Roman des 1979 in Güssing geborenen Wahlwieners Clemens Berger versteht sich aufs Groteske ebenso gut wie aufs Realistische und erschafft nebenbei eine kritische Gegenwartsdiagnose. Die höchst unterschiedlichen Charaktere, die die Dienste des Streichelinstituts in Anspruch nehmen, werden plastisch gemacht, indem Berger es vermeidet, zu viel zu erklären – sondern seine Proponenten lieber selbst für sich sprechen lässt. Dabei geht es ihm aber nicht um dialogische Effekthascherei, sondern um die Darstellung der Verwirrung von Gefühlen angesichts einer inflationären Lebenshilfepraxis in einer Gesellschaft, die alle Beziehungen ökonomisiert. Besonderen Reiz hat dabei die Perspektive des erlebenden Ich-Erzählers: Trotz allem schwarzen Humor führt diese nämlich in jene Grenzsituationen, in der sich gegenseitige menschliche Berührung vollzieht: Sie ist nur bedingt steuerbar und kann jederzeit ungeahnte Emotionen und Erinnerungen hervorbringen. Die besondere Leistung des Autors dabei ist es, dem Text, bei dem jedes Wort sitzt, durch Aussparungen immer wieder einen kalkulierten Interpretationsspielraum zu geben, womit der Roman im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn zu berühren vermag.

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