Ohren haben keine Lider

Psychotropische Raumkapseln

Die Bewohner eines Züricher Mehrparteienhauses portraitiert Monique Schwitter, Autorin des beglückenden Erzählbandes „Wenn’s schneit beim Krokodil“, wie in Raumkapseln vergessene. Für die Wiederaufnahme der Triebkräfte sorgt eine der feinsinnigsten Romanheldinnen jüngeren Datums.

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Thrash Metal, kamerunische Volksmusik, Sisters of Mercy, Bruckner und „Anita, Anita“-Karaoke: Diesen Sound-Mix erduldet Schwitters Protagonistin schier gleichmütig, das Knistern zwischen den Dröhnenden jedoch verfolgt sie aufgeweckt und feinhörig. Ihrem Nichtstun mit Theorien stützenden Freund, dessen großmütterliches Erbe pünktlich zur Matura die gemeinsame Wohnung ermöglichte, sind die Hausbewohner eins. Die weinschwer Schneckenhäuser malende Kinderärztin, der amerikanische Cellistenkauz und die via Post-it-Zettel Ruhe einmahnende Lehrerin igeln sich ebenso ein wie das ungleiche Paar Gerd (Metal- und Speedhead) und Agnes („Miss World der Liebeswürdigkeit“). Deren pharmaindustriell benebelte Triebe entblättert die verbindlichkeitsscheue und anfangs leicht paranoide Erzählerin, während die eigene Beziehung vergreist. Nah an Mimik und Gesten der Raumkapselbewohner werden die Sublimierung urbaner Einsamkeiten kontrastiert mit zaghafter Nächstenliebe und gleichgeschlechtlicher Bande. Auf haardünne Spuren möglichen Glücks lässt Schwitter, als Schauspielerin an Nuancierung gewöhnt, die Leser mittels direkter Adressierung selbst zoomen, während sie die Annäherungen lakonisch, bisweilen ironisch beschreibt. Doch Agnes’ gewaltsamer Tod zu Silvester erschüttert die neuen Gefüge – und dramatisiert den Roman.

Durch eine Distanz ermöglichende neue Erzählperspektive, die Ausweitung der Sehnsuchtszonen von Zürich nach Kamerun und pointierte Episoden gestaltet sich der zweite Romanteil als Schnellvorlauf der Identitätssuche ihrer doppelt verlassenen Protagonistin. Indem sie ihr trotz prekärer Jobsituation und Schuldgefühlen ob Agnes’ Tod einen optimistischeren, auch pragmatischeren Weltzugang zugesteht, wird Schwitters Roman zum Ängste abstreifenden /coming of age/ einer der sensibelsten Romanfiguren jüngeren Datums. Ein schillerndes, auf sehr hohem Niveau erzähltes Handbuch der angewandten Lebenskunst.

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