Schall und Wahn

Der Zweifel hat das Wort

Nach der Kapitulation ziehen Tocotronic mit ihrem neuen Album wieder in die Schlacht. Der Feind: Verabscheuungswürdige Ideologien. Mit Zweifel, Unsicherheit und einem Bekenntnis zum Scheitern im Gepäck steht einem neuen Triumph nichts mehr im Weg.

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Diesmal sollte eigentlich die Musik stärker zu Wort kommen. Tocotronic wünschen sich, dass ihr neues Werk nicht nur inhaltlich sondern auch musikalisch wahrgenommen wird. Dafür schenken sie zwei ihrer neuen Lieder gleich je acht Minuten Spieldauer – die Instrumentalstrecken sollen diesmal auf keinen Fall zu kurz geraten. Laute Gitarren wechseln sich mit zarten Streicherarrangements ab und bilden einen opulenten Klang. Stücke wie das eindringliche „Im Zweifel für den Zweifel“ und das tosende „Macht es nicht selbst“ bezeugen eine inhomogene aber immer stimmige Symbiose aus frühen Schrammelrockzeiten und den Popsymphonien der letzten Jahre.

Und damit ist die Musik an dieser Stelle schon stark genug zu ihrem Wort gekommen. So aufregend und gelungen vielschichtig „Schall und Wahn“ musikalisch im Vergleich zu seinen Vorgängern „Pure Vernunft darf niemals siegen“ und „Kapitulation“ auch sein mag – es sind Dirk von Lowtzows Texte, die sich immer wieder in den Vordergrund drängeln, Interpretationsspielräume schaffen und die Gedankengänge ankurbeln. Es ist der immer wiederkehrende Widerstand, der sich Hand in Hand mit dem Zweifel und der Unsicherheit wie ein roter Faden durch das ganze Album zieht. Tocotronic wollen der Unsicherheit, der Angst und dem Scheitern zu ihrem Recht verhelfen. „Was du auch machst / mach es nicht selbst / auch wenn du dir darin gefällst“ heißt es da. Es ist der Kampf gegen die verabscheuungswürdige Ideologie „des ständig sich selbst verwirklichenden Individuums“, so Lowtzow. Und dabei sieht er sich selbst, was die Texte betrifft, nur als Schmarotzer: „Es ist ein Irrglaube, wenn jemand etwas Schöpferisches macht, das alles nur aus sich selbst heraus schöpft.“ Viel eher vergleicht er sich mit einer Zecke, die auf der Lauer liegt und darauf wartet, dass etwas Interessantes vorbeikommt, das sie aussaugen kann. Zweifellos uneindeutiger Widerstand und musikalisch facettenreicher Diskurspop sind das Ergebnis.

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