Stürmt Europa!

Mit „Schall und Wahn“ setzen Tocotronic die aktuelle Reihe höchst relevanter deutschsprachiger Alben fort. Christine Baumgartner hat sich mit Dirk von Lowtzow unterhalten.

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Tocotronic haben seit den mittleren Neunzigern wie kaum eine andere deutschsprachige Band mit jedem neuen Album ihre Fans und die Öffentlichkeit auf Trab gehalten. Keine deutsche Independent Band blickt einem so häufig von den Magazin-Covers wie Tocotronic. Jedes neue Album wurde und wird immer wieder auf die diskursive Waagschale gelegt, jeder neue Slogan auf seine mikropolitischen Konsequenzen hin seziert. Da war kam der meistens krachigen Verweigerung der Schwenk hin zum wolkigen Irrationalität und schließlich folgte die totale Kapitulation.

Auch auf dem neuen Album stellt man sich im „Zweifel für den Zweifel“ und paraphrasiert einen Leitspruch der beengenden deutschen Heimwerkermentalität: „Macht es nicht selbst“. Und weil Tocotronic nicht einfach Pop sind, sondern eben Diskurspop der Hamburger Schule, sind diese Zeilen nicht einfach so zu nehmen wie sie in die Welt geworfen werden, sondern diese Texte schlagen Haken; schillern in ihrer Bedeutung. Aber das Ganze könnte durch diese Arbeitsweise manchmal etwas gar geschmäcklerisch werden, und deshalb ist da zum Glück noch die Musik, die den aufgebrochenen Bedeutungen einen sonischen Rahmen geben. Beide zusammen unterstreichen auf dem neuen Album „Schall und Wahn“ zum wiederholten Mal den Status von Tocotronic als eine der Bands, die tatsächlich Menschen in ihren alltäglichen Gedanken und Handeln berührt.

Interview von Christine Baumgartner mit Dirk von Lowtzow:

„Im Leben geht’s oft her wie in einem Film von Rohmer.“ Aus einem traurigen Anlass hört man die Textzeile in letzter Zeit sehr oft. Kannst du kurz erzählen, wie es damals zu dem Lied „Meine Freundin und ihr Freund“ gekommen ist?

Gute Frage. Ich glaube der Song ist ein gutes Beispiel dafür wie wir damals und eigentlich auch heute arbeiten. Wir gehen oft von Titeln aus und damals bin ich auf die Idee gekommen diesen Titel zu paraphrasieren und als Song zu verwenden. Diese Art der Aneignung – das bestimmt uns als Band auch noch heute – es ist ein gutes Beispiel für unsere Methode und wie es bei uns zu Songs kommt. Die liegen ja nur ganz selten autobiografischen Erlebnissen zugrunde. Es war eine Hommage an Rohmer – umso trauriger stimmt es mich, dass er gestorben ist. Aber er war ja auch schon alt.

„Mach es nicht selbst“ fordert ihr in eurer ersten Single. Nichts selber zu machen heißt aber in unserer Welt nicht vorankommen und scheitern. Man könnte eure neue Platte – die ja voll ist von Zweifel, Unklarheit und Kontrollverlust – auch als ein Bekenntnis zum Scheitern interpretieren. Inwiefern ist das Scheitern in unserer Gesellschaft für dich eine Tugend?

Es ist vielleicht keine Tugend aber auf jeden Fall ist es keine Untugend. In unserer Gesellschaft, im zeitgenössischen Kapitalismus, ist das Scheitern das absolut Verbotene. Wenn man scheitert darf man das auf gar keinen Fall zugeben. Unsicherheit, Angst, Scheitern, auch Unflexibilität sind absolut verpönt weil sie null komma null dem Imperativ des ständig sich selbst verwirklichenden Individuums entsprechen. Diese Ideologie finden wir so verabscheuungswürdig dass wir sie immer wieder versuchen zu bekämpfen.

Gibt es im Leben eines Dirk von Lowtzow eigentlich Schaffenskrisen?

Schaffenskrisen hatte ich nie. Wenn mir nichts einfällt mache ich einfach nichts und es ist mir wurscht. Zeiten in denen mir nichts einfällt habe ich nie als krisenhaft empfunden. Wenn einem nichts einfällt, fällt einem halt nichts ein. Das ist auch gut so. Dann macht man halt nix.

Und woher nimmst du noch die Inspiration nach so vielen Jahren?

Keine Ahnung. Ich weiß nicht woher ich meine Inspiration nehme. Ich fand aber immer die Idee des „auf der Lauer liegens“ sehr schön – wie so eine Art Insekt – oder Zecke. Wenn was Interessantes vorbeikommt saugt die Zecke das dann aus. Es gibt also Quellen, denen man sich bedienen kann und die sind noch nicht versiegt. Es ist übrigens ein Irrglaube anzunehmen, dass, wenn jemand schöpferisch etwas macht, man das immer nur aus sich selbst heraus schöpft. Leute die das glauben sind naiv oder doof. Alles was entsteht, ist irgendwie in Relation zu Dingen zu setzen, die es schon gibt. Zu glauben, Dinge seien nur dann gut, wenn man sie aus sich selbst herausschöpft, ist ein Irrglaube. Und auch eine scheußliche Ideologie. Künstler, alle die es sein wollen und auch Gammler und Taugenichtse haben sich immer Werke anderer bedient und ihr eigenes Zeug einfließen lassen.

„Kunst entsteht erst im Auge des Betrachters“ hast du mal in einem Interview gesagt. Warum ist euch Uneindeutigkeit und Interpretationsspielraum eurer Texte wichtig?

Das ist mir eigentlich nicht wichtig, es ist nur die Art, wie ich mich äußere. Auf den Punkt gebracht: Ich möchte von ganzen Herzen vermeiden, die Menschen mit meinen Anliegen zu belästigen. Es wäre grauenvoll wenn Leute das was wir machen, als Belästigung empfinden würden. Andererseits sind manche Stücke doch ganze eindeutig oder?! Manchmal wird uns so eine Uneindeutigkeit auch nur angedichtet. Viele Stücke sind prägnant und auf den Punkt gebracht, also gar nicht mehrdeutig. Man darf aber nicht immer versuchen, alles zu erklären.

Weil es dann uninteressant wird?

Genau. Es ist aber ein Dilemma. Wenn man Interviews gibt wird man oft aufgefordert, etwas zu erklären. Wenn man sich dem dann nicht komplett verweigert, sei es aus Höflichkeit oder Unsicherheit, macht man es und hinterher ärgert man sich über sich selbst.

Dass du ein politischer Mensch bist hast du schon öfter anklingen lassen. Erst kürzlich hast du zum Beispiel die Aktionswochen gegen Antisemitismus unterstützt – warum hast du kein Bedürfnis nach klaren Statements in politischen Liedern?

Habe ich ja. Ich finde zum Beispiel das Stück „Stürmt das Schloss“ vom neuen Album ist ein echt klares Statement. Ich habe etwas gemacht, was ich noch nie gemacht habe: Ich habe versucht ein Stück für all diejenigen zu schreiben, die von der menschenverachtenden deutschen und europäischen Asylpolitik betroffen sind. Die Idee, die Festung Europas zu stürmen fand ich interessant. Ich habe auch gar nichts gegen klare, politische Statements. Bei den Aktionswochen gegen Antisemitismus würde ich ja auch keine schwammigen Äußerungen machen, sondern klar sagen was ich denke. Nur Lyrik und Rockmusiktexte beziehen ihre Qualität ja aus der Form und die muss gelungen sein. Wenn es ein blödes Lied ist, ist der beste Inhalt schrecklich.

Jan Müller wünscht sich in eurem Making-Of Video, dass der Eindruck entsteht, dass es bei „Schall und Wahn“ wieder mehr ums Musik-Machen geht. Inwiefern legt ihr im Moment Wert darauf, mehr musikalisch statt inhaltlich wahrgenommen zu werden?

Das hängt mit der Rezeption zusammen. Das letzte Album ist stark inhaltlich wahrgenommen worden. Es hat zu dieser Zeit auch gepasst, es hat gezündet, teilweise war es auch Absicht. Wir arbeiten aber immer korrigierend und dialektisch in Bezug auf die Alben, die wir davor gemacht haben. Bei „Schall und Wahn“ hatten wir einfach Bock, den Gesang, die Texte und die Aussagen in die Musik einsickern zu lassen – die Musik stärker zu ihrem Wort kommen zu lassen. Wir wollten das Improvisierte, das Noisige und dieses Delirierende, das wir haben wenn wir live spielen, einfach integrieren.

Nach „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005) und „Kapitulation“ (2007) habt ihr die Berlin-Trilogie abgeschlossen. Warum gehören die drei Alben zusammen?

Die Alben bilden ein bisschen aus Scherz eine Trilogie. Wir wollten damit einen Scherz auf Kosten von David Bowie machen, der ja auch eine Berlin-Trilogie gemacht hat (Low, Heroes, Lodger). Außerdem haben wir alle drei Alben in Berlin aufgenommen, meist im selben Studio und mit demselben Produzenten. Und wenn man alle drei Alben zusammenfasst sieht man, dass sie relativ ähnliche Themen beackern, es gibt Überschneidungen und wiederkehrende Themen, aber auch Entwicklungen was den Sound betrifft. „Pure Vernunft darf niemals siegen“ war ja eher minimalistisch, das jetzige ist opulenter und räumlich. Außerdem kann man sich auch gleich doppelt belohnen, weil man nicht nur ein Album sondern gleich eine ganze Trilogie fertig gestellt hat. Das ist ein gutes Gefühl!

Bedeutet dieser Abschluss für euch jetzt Veränderung?

Ja, aber eigentlich kann man das jetzt noch nicht sagen. Jetzt sind wir gerade erst mal fertig geworden. Wir gehen jetzt mal auf Tour und danach müssen wir mal wieder zwei Jahre aufs Sofa.

„Schall und Wahn“ von Tocotronic erscheint am 22. Jänner 2010 via Universal.

Live:

27.3. 2010, Orpheum Graz

29.3. 2010, Arena Wien

Zusatztermin in Wien:

30.3. 2010, Arena Wien

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