The Morning Line Vol. #1

Viel Lärm um ein paar Aluteile


The Morning Line ist weit mehr als nur ein feines, rotes Vinyl mit Krchz-Musik. Kein Projekt hat sich von so vielen Seiten her um avancierte Sound-Kompositionen bemüht.

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Der Totem steht am Wiener Schwarzenbergplatz: eine raumgreifende Skulptur, 20 Tonnen Aluminium von Matthew Ritchie, die zuvor schon in Sevilla und Istanbul zu sehen war. Sie ist das tektonische Zentrum von The Morning Line, das von dort aus Wellen rund um den Globus schickt. Begehbare Sound-Installationen wie diese oder Super-Siebzehn-Kanal-Surround sind dabei nicht grundsätzlich neu, aber in dieser Konsequenz einzigartig. Mit 47 einzelnen Kanälen kann die schwarze, verschnörkelte Klang-Antenne im öffentlichen Raum bespielt werden. In Wien taten das dann auch neun Musiker mit exklusiven Arbeiten – allesamt gefeierte Vertreter der elektronischen Avantgarde, darunter Fennesz, Carsten Nicolai, Terre Taemlitz, Alexei Borisov oder Pomassl. Gebündelt wurde das in einem Festival mit Symposium, Uraufführungen, Konzerten, einer Festivalzeitung, einem 140-seitigen Textband und eben einem formschönen, roten Vinyl. Bumm. Oder besser: KRKZ.

Die Eröffnung des Festivals im Juni 2011 ist allein einen Nebensatz wert, weil sich wohl zu keiner Zeit in Wien eine derart heterogene Gruppe an Menschen versammelt hatte. Lodenträger, Lumpen-Bohemiens, Neocon-Yuppies, ORF-Direktoren, Habsburger, Journaille, Lohas und Stadträte durchmaßen die singenden Fraktalbögen der Aluminiumskulptur. Musik und Sound sollen anders erfahren werden, weg von der Guckkastenbühne, der Raum wird zum wesentlichen Parameter der Musik und löst den Tonträger ab. Pomassl spricht etwa von Brechungen, Fehlern, Instabilitäten und stehenden Wellen, die beim Begehen entstehen. Natürlich wird dazu diskursiv mit ganz furchteinflößend-elitären Begriffen hantiert: »nicht-lineare Komposition palindromischer Form«, »präkompositorische Prozesse außerhalb von Zeit«, »multilaterales Sinus-Wellen-Sonorium«. Auch schon wieder süß. Aber man reagiert damit künstlerisch auf die zunehmende Allgegenwart von Tönen und Sounds – Stichwort »Sonic Turn«.

Dieses Vinyl nun rechnet die 47 Kanäle auf Stereo herunter, die räumliche Erfahrung fällt weg, es ist aber ein eigenständiges Artefakt des Projekt-Kolosses The Morning Line, das zwar nicht mehr die Polydimensionalität der Sound-Metall-Skulptur besitzt, aber als nicht ganz so revolutionäre Elektronik fein ziselierte Tracks von – siehe oben – einer Auswahl der internationalen Elektronik-Elite bietet.

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