Alle Jahre wieder blickt unsere Redaktion auf die musikalischen Highlights der letzten zwölf Monate zurück. Mit streng subjektivem Blick. Was Sandro Nicolussi 2020 musikalisch bewegt hat, könnt ihr hier nachlesen.
Mittlerweile fühlt es nicht nur falsch, sondern auch schon ziemlich nervig an, etwas über das vergangene Jahr zu schreiben. Mir fallen nicht nur keine Corona-Synonyme mehr ein, auch der Pool an halblustig-euphemistischen Jahresvergleichen ist längst ausgeschöpft. Deshalb: Es war a hell of a year für uns alle (außer für Jeff Bezos und seine Hawara, aber dazu dann in einem anderen Artikel).
Aber trotz allem, was dieses Jahr so passiert ist, war es nicht still. Es gab Musik, es gab sehr gute Musik. Und wie es der Brauch so will, werden die vergangenen 366 Tage (look it up!) nun von MusikjournalistInnen liebevoll in Nussschalen gepackt, während sich drüben auf Instagram alle gegenseitig mit ihren Spotify-Jahresrückblicken nerven, die meist so akkurat sind wie das Klatschen von den Balkonen im März wirkungsvoll war.
Anyways, in den folgenden drei Rubriken stelle ich vor, was mich musikalisch durch das Jahr gebracht hat. Ein Stück Text zu schreiben, in dem alles einfach nur geil gefunden wird, ist schließlich auch eine wichtige Sache, um noch mal so richtig Psychohygiene zu betreiben, bevor schon bald die obligatorischen Familienbesuche fällig werden. Nebenbei sei erwähnt, dass alle der folgenden Projekte (zumindest teilweise) in Österreich ansässig sind. Man soll ja die heimische Wirtschaft stärken, nicht? Vorab sei auch gesagt, dass die Reihung der Alben und Tracks ohne Wertung passiert – sie sind allesamt einfach großartig.
Alben des Jahres 2020
Voyage Futur »Inner Sphere« (Wolfgang Möstl)
Wolfgang Möstl ist (mit nur leichter Übertreibung) so etwas wie der König Midas der österreichischen Musikszene. Wo er die Finger drauf hat, wird irgendetwas zu Gold. Dementsprechend schwer war es dieses Jahr auch, eine der begehrten Platten von Voyage Futur zu ergattern. Glücklicherweise gibt es das #neuland Internet:
Rosa Anschütz »Votive«
Das brillanteste Debütalbum des Jahres durfte ich an dieser Stelle schon wohlwollend besingen. Der damalige Schlusssatz, dass uns dieses Album durch die Winterdepression hieven wird, hat sich bisher bewahrheitet – das nationale und internationale Echo spricht Bände.
Electric Indigo »Ferrum«
Bezeichnet man Susanne Kirchmayr – das ist der bürgerliche Name von Electric Indigo, duh – als Pionierin im Bereich der elektronischen (Club-)Musik, trifft das den Punkt ziemlich gut. Den österreichischen Kunstpreis für Musik 2020 hat sie jedenfalls nicht zufällig abgeräumt. Avantgarde trifft Dancefloor und das hämmert (pun intended) teilweise ganz schön rein.
Mavi Phoenix »Boys Toys«
»Starting T tomorrow! See you on the other side«, liest man unter dem letzten Post auf dem Instagram-Profil von Mr. Marlon Phoenix, der dieses Jahr nach gelegentlichen Andeutungen seine Transsexualität öffentlich machte. Das Album, das diesen Schritt begleitete, transportiert das Gefühl dieses Befreiungsschlags von gesellschaftlichen Erwartungen und Zwängen direkt ins Trommelfell.
Def Ill »Lobotomie«
Def Ill schreibt nicht nur Texte, die man sich wegen der lyrischen Komplexität und seinem Out-of-this-world-Tempo häufiger anhören muss, wenn man sie ansatzweise verstehen will, er ist auch in Sachen Konzeption ziemlich versiert. Die Detailverliebtheit des Rappers macht das für heutige Verhältnisse schon ultralang wirkende Album zusätzlich spannend. Und das Outro als erste respektive das Intro als letzte Nummer zu setzen, gibt trotz vermeintlicher Einfachheit des Gags einen wertvollen doppelten Boden.
Ambient Animal »Transcend«
Ungefähr zehn Jahre hat es laut Eigenangaben des Labelchefs von Sama Recordings, Benedikt Guschlbauer, gedauert, bis er aufgezeichnete und gesammelte Notizen und Jams ultimativ in ein Album gießen konnte. Als Fan der Art von schneller Musik, die Impulsen folgend und aktuell seiend an die HörerInnen getragen wird, tut so eine Entschleunigung auch mal gut. Das Album liefert durch seine Vielseitigkeit für Momente von Morgenmeditation bis zum Dancefloor am Abend (you remember?) den passenden Soundtrack.
Kinetical & P.tah »Lift«
Feinster Grime mit einer solchen Schwere, dass man gerne mal kurz stehenbleiben und innehalten kann, wenn man das Teil unterwegs hört. P.Tah lässt außerdem zart anklingen, dass er sich nach dem Album etwas anderer Musik widmen möchte. Nach so einem Album jedenfalls kein schlechter Move – besser wird’s nicht. Und die rundumschlagenden Abrechnungen mit Politik, Gesellschaft, Industrie und auch sonst allem werden wohl leider auch noch länger aktuell bleiben.
Fauna »Syncronia«
Mit ihrem dritten und angeblich letzten Album markiert Fauna einen Awakening-Prozess. Glücklicherweise relativiert sie die Ankündigung aus dem Intro-Track mittlerweile in Interviews und stellt in Aussicht, dass es noch ein viertes Album geben könnte, wenn es die Lebensumstände verlangen. Es ist irgendwie schwer, jemandem Lebensumstände an den Hals zu wünschen, die ein Album mit sich bringen, da solche bekanntlicherweise nicht immer schön sind. Deswegen begnügen wir uns derweil doch einfach mit den bisherigen drei Alben, die leise Hoffnung auf mehr darf bleiben.
Ayotheartist »Atlantopia«
Eintauchen in die Wellen der maritimen Soundstrukturen. »Atlantopia« schafft einen Vibe, der sich anfühlt, als würden Nemo und Arielle gemeinsam eine Reise durch die sieben Weltmeere unternehmen. Getragen zart auf der einen, überraschend uplifting auf der anderen Seite. Insgesamt eine flüssige Sache. Stay hydrated!
Tony Renaissance »Dreamreality«
Anstatt an dieser Stelle darüber zu streiten, ob das nun eine EP oder ein Album ist, können wir uns doch einfach an Tracks wie »Baby, Take The Trash Out« erfreuen, nicht? Haarspalterei ist immerhin so ein unangenehmes Boomer-Ding und die Aufmerksamkeitsökonomie wird vielleicht schon bald nicht mehr als vier Tracks pro Album zulassen. Auch egal, Tony Renaissance liefert jedenfalls Dream-Pop, der Welten bewegt.
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