Screen Lights: Let’s (not) talk about sex! – »Poor Things« von Yorgos Lanthimos

Christoph Prenner bewegen bewegte Bilder – in diesem Kompendium zum gleichnamigen Podcast schreibt er drüber. Diesmal schwärmt er von Yorgos Lanthimos’ »Poor Things«, einem maximalistischen Kulissen- und Kostümfurioso, dem es um mehr als um Provokation geht und das eine auf wundersame Weise lebensbejahende Sicht auf die Welt entwickelt.

© Atsushi Nishijima / Searchlight Pictures — Emma Stone und Mark Ruffalo in »Poor Things«

Pressekonferenzen großer Film­festivals erweisen sich ganz gern als Schau­plätze aufsehen­erregender Auftritte. Berauscht von der Premieren­euphorie wird hier zum Gaudium der ver­sammelten Presse schon mal die eine oder andere kontroverse Botschaft losgelassen, die dann unverzüglich ihren Weg in die Welt antritt, um diese für die Bonmot-Beisteuernden im übelsten Fall für immer zu verändern (so long, Lars von Trier!). Da oben auf dem Podium kann so mancher wache Geist bisweilen aber auch zu pointierten Betrachtungen kommen – so wie Yorgos Lanthimos bei den Film­fest­spielen von Venedig: »Es ist schon seltsam, oder?«, antwortete der griechische Regisseur (»The Favourite«) auf die Frage, warum die selbst­bewusste Sexualität seines eben gezeigten neuen Werks viele so über­rascht habe, und fuhr mit der konsequenten Folgefrage fort: »Warum gibt es keinen Sex mehr in Filmen?«

Einerseits hat Lanthimos mit seiner Beobachtung durchaus recht – denn auch der durch MeToo endlich angestoßene Einsatz von Intimacy Coordinators am Set hat den Backlash gegen nackte Tatsachen auf der Leinwand keineswegs völlig zum Verstummen gebracht. Man denke nur an die wütenden Netz­reaktionen auf einschlägige »anstößige« Szenen in Oppenheimer oder an eine aktuelle Studie der UCLA, wonach die Gen Z mit weniger Sex in Bewegtbild­produktionen gut leben könnte.

Andererseits ist die Diagnose der Neo-Keuschheit, die sich in Hollywood ausgebreitet zu haben scheint, vielleicht doch verfrüht, wenn man bedenkt, wie genüsslich Filme in den letzten Monaten die Geheimnisse des Fleisches zelebriert haben – etwa die ultra-explizite queere Ménage-à-trois in Ira Sachs’ »Passages« oder Chloe Domonts Erotikthriller »Fair Play«, der ein verpöntes Genre in der Gegenwart und im Feminismus hat ankommen lassen. Und dann ist da eben noch Lanthimos’ in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämierter und auch sonst absolut ausge­zeichneter Film »Poor Things« selbst, der in diesem Themen­feld noch mal ganz neue, aufregende Perspektiven aufwirft, die geeignet sind, der Diskussion um die Not­wendig­keit von Sex auf der Leinwand zusätzliche Würze zu verleihen.

So freizügig und schamlos wie dieser Film, der auf der Viennale zu sehen war und ab Mitte Jänner regulär in die Kinos kommt, war ein Hollywood-Studio­projekt schon lange nicht mehr. Ja, sie wurde tatsächlich vom konservativ-korrekten Disney-Konzern finanziert, diese Adaption einer Geschichte von Alasdair Gray, in der eine gewisse Bella Baxter (Emma Stone) von einem Wissen­schaftler (halb Franken­stein, halb Franken­steins Monster: Willem Dafoe) von den Toten zurückgeholt wird – durch die Implantation des Gehirns ihres ungeborenen Kindes. Holy fuck!

Dieser Eingriff geht freilich mit der Konsequenz einher, dass die (körperlich) erwachsene Frau wieder ganz bei Null anfangen und sich das sonst über Jahrzehnte ange­sammelte Lebens­wissen im Zeitraffer abermals erarbeiten muss. Dazu gehört, neben dem erneuten Erlernen, wie man geht, spricht und sich in der Welt zurecht­findet, auch das (Wieder-)Erforschen der eigenen Sexualität. Ihre auf­keimende Faszination für das »furious jumping« wird bald von einem windigen Advokaten (Mark Ruffalo) missbraucht, der der bisher Eingesperrten die Welt zeigen will – mit besonderem Augen­merk auf deren Betten. Ihre Reise führt Bella schließlich in ein Pariser Bordell, wo sie entdeckt, dass sie mit ihrer Lieblings­beschäftigung Geld verdienen und sich so von den Männern, die sie einzuhegen pflegen, unabhängig machen kann.

Willem Dafoe in »Poor Things« (Foto: Yorgos Lanthimos / Searchlight Pictures)

Lebensbejahende Provokation

Zweifellos ist es Bellas unbändige Lust am Leben, die dieser verwegene Volten schlagenden Story ihre wilde Kraft verleiht. »Ich bin ein unvoll­kommener, experimentier­freudiger Mensch«, bemerkt sie einmal fast leit­motivisch im Zusammen­hang mit ihren Erkundungen. Ihre »Freiheit in allem, auch in der Sexualität« sei elementarer Bestand­teil des Stoffs, ließ Lanthimos auf besagter Presse­konferenz wissen, um dies sogleich als Handlungs­anweisung für sich selbst zu verstehen: »Es war mir sehr wichtig, keinen prüden Film zu machen, denn das würde die Haupt­figur völlig verraten. Wir mussten selbst­bewusst sein und wie sie keine Scham empfinden.«

An jener Stelle hätte man natürlich auch gerne erfahren, was sich Emma Stone bei der Gestaltung ihrer Rolle gedacht hat – aber dazu durfte sie sich wegen des damals noch laufenden Streiks der Screen Actors Guild nicht äußern. Stones stets furcht­los forschendes Spiel spricht ohnehin für sich: Mit vollem Körper­einsatz lässt sie sich auf Bella und ihre Ent­wicklung ein, erweckt sie mit einem Mix aus Komik und Mitgefühl, Albernheit und Pathos eindringlich zum Leben. So hat man die Oscar-Preis­trägerin (»La La Land«) noch nie gesehen.

Emma Stone in »Poor Things« (Foto: Yorgos Lanthimos / Searchlight Pictures)

Aber auch Lanthimos setzt in seinem unüber­sehbar kost­spieligsten Film neue Akzente. Der Meister der kleinen, giftigen Studien menschlicher Gnaden­losigkeit (von »Dogtooth« bis »The Lobster«) erzählt seine emanzipatorische Befreiungs­geschichte mit ungeahnter Lust an kühner visueller Opulenz, als maximalistisches Kulissen- und Kostüm­furioso mit einer Haltung zum Thema Begehren, die mit Begriffen wie Sex­positivity nur unzureichend beschrieben ist. Dabei geht es ihm spürbar um mehr als um Provokation um der Provokation willen: Mit Bellas moralischem Erwachen zwischen Schlüpfrig- und Spitzzüngig­keiten entsteht schließlich sogar eine auf wunder­same Weise lebens­bejahende Sicht auf die Welt.

Lanthimos leugnet nicht, dass wir alle irrsinnig grausam sein können, aber gleichzeitig vermittelt er auf subtil subversive Weise die Über­zeugung, dass zumindest die meisten von uns fähig und willens sind, das Gute und Schöne zu sehen und auch danach zu streben. Noch lange nachdem die zahllosen orgastischen Schreie seiner Heroin und die sie not­gedrungen begleitenden medialen Aufschreie verklungen sein werden, dürfte es diese ungeahnt zärtliche Botschaft eines der schonungs­losesten Filme­macher der Gegenwart sein, die Bestand haben wird.

»Poor Things« startet am 19. Jänner 2024 in den österreichischen Kinos.

Christoph Prenner plaudert mit Lillian Moschen im Podcast »Screen Lights« zweimal monatlich über das aktuelle Film- und Serien­­geschehen. Unser Kolumnist ist per E-Mail unter prenner@thegap.at zu erreichen bzw. auf X (vormals Twitter) unter @prennero zu finden.

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