Sieben Jahre nach »Retromania«: Simon Reynolds im Interview – Dämonen und digitale Wesen

2011 ist Simon Reynolds’ leidenschaftlich diskutiertes Standardwerk »Retromania« erschienen. Vieles sieht der Autor und Kulturjournalist heute anders und optimistischer. Mit The Gap sprach er – anlässlich eines Talks, für den er zum Donaufestival nach Krems kommen wird – nicht nur über Zeitlichkeit und Innovation im Pop, sondern auch über Medien, Magie und Politik.

Jemand hat mal gesagt, Rockmusik wäre die Wiederverzauberung der Welt. Glaubst du, dass besonders Popmusik ein Bereich ist, wo das ausgelebt werden kann, als einer Art Religionsersatz?

Es gibt dabei gute und schlechte Aspekte. Rockmusik lässt die Leute fühlen, dass es Helden gibt und dass sie auch Helden sein könnten. Es gab offensichtlich Zeiten, in denen Rockmusik politische Themen ansprach und versuchte die soziale Wirklichkeit zu verändern. Aber vieles, ob nun Glamrock, Heavy Metal oder Rap, ist ein System aus Fantasien. Es wird das Bild einer Welt gezeichnet, in der man diese außergewöhnliche Person ist, alle seine Sehnsüchte wahr werden oder in der man ein abenteuerliches Leben führt.

Die Art, wie Musik auf uns wirkt, hat auch nicht wirklich etwas mit Vernunft zu tun. Selbst, wenn man die technische Seite der Musik, Noten und Harmonien kennt, bleibt immer noch etwas Mysteriöses an ihrer Wirkung. Als ich das Glam-Buch schrieb, war ich verblüfft, wie viele Performer über sich als magisch sprachen. Marc Bolan von T. Rex erfand viele Geschichten darüber, wie er mit einem Zauberer zusammen wohnte, dieser ihm alle seine Geheimnisse anvertraute und inwiefern Popmusik eine Form von Magie war. David Bowie war fasziniert vom Okkulten. Er wurde fast verrückt, als er all diese okkulten Bücher las, Zaubersprüche durchführte und auch sehr viel Kokain nahm. Rockmusik beschäftigt sich mit Dingen wie Charisma und einer Eigenschaft, die manche Leute zu haben scheinen, die die Energie in einem Raum verändert. All diese Dinge haben eine magische Qualität, aber sie können auch in den Bereich kippen, wo es sich zu einem Kult entwickelt oder sogar faschistische Züge annimmt.

Simon Reynolds © Adriana Bianchedi

Also denkst du, es kann gefährlich sein oder ist es vielleicht die Aufgabe von Popmusik, den Menschen diesen Freiraum zu bieten?

Vielleicht ist Popmusik in den meisten Fällen ein sicherer Ort für diese Art Fantasien und das Gefühl einer ekstatischen Gemeinschaft. Bei manchen Arten von Musik, Heavy Metal oder Rave, gibt es eine Art Stammesgefühl. Drogen helfen noch mehr, diese Energie zusammen zu erschaffen.

Leute erleben das auch beim Sport. Ich bin kein Sportfan, aber mein guter Freund in England spricht über Arsenal immer in der Wir-Form. Er fühlt sich, als wäre er Teil des heroischen Kampfs gegen das andere Team und des Ruhms des Moments, wenn das Spiel in der letzten Minute gewonnen wurde.

Das sind alles Systeme, um das intensive Gefühl von Zugehörigkeit, Heldentum, Aufregung und Abenteuer zu erleben. Aber wenn diese Dinge innerhalb der Politik aktiviert werden, wird es bedenklich. Ich leihe mir hier eine Idee von Anton Weber: Politik funktioniert nicht ohne irrationale Elemente wie Charisma und Theater. Ohne sie wäre sie zu langweilig. Aber wenn es zu viel davon gibt, wenn es zu viel kultähnliche Gefühle gegenüber einem Führer und zu viel Theater ohne Substanz gibt, kommt man in diese gefährliche, faschistische Zone, von der wir im Moment ein bisschen etwas in der Weltpolitik sehen können.

Nächste Seite: Innovationspotenziale der Popmusik?

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...