Sieben Jahre nach »Retromania«: Simon Reynolds im Interview – Dämonen und digitale Wesen

2011 ist Simon Reynolds’ leidenschaftlich diskutiertes Standardwerk »Retromania« erschienen. Vieles sieht der Autor und Kulturjournalist heute anders und optimistischer. Mit The Gap sprach er – anlässlich eines Talks, für den er zum Donaufestival nach Krems kommen wird – nicht nur über Zeitlichkeit und Innovation im Pop, sondern auch über Medien, Magie und Politik.

Glaubst du, es kann eine musikalische Innovation auf technischer Ebene geben, die als innovativ empfunden wird, ohne dass sie soziale Relevanz oder Bedeutung für die Menschen hat?

Ich bin mir wegen der Technologiesache nicht sicher. Es ist eine ganze Weile her, seit es eine wirklich neue Technologie in der Musik gab, die tatsächlich eine Menge neuer Möglichkeiten bot, an die vorher nie jemand gedacht hatte. Es fühlt sich eher so an, als würden die Dinge, die erfunden wurden, das Machen erleichtern, so dass die Menschen auf dem Laptop tun können, was früher in einem Studio gemacht werden musste. Aber sie machen nicht unbedingt Sachen, die vorher unmöglich waren.

Beim Aufkommen von Autotune hatte ich das Gefühl, dass Dinge passieren, die ziemlich »21. Jahrhundert« waren. Es gibt auch viel experimentelle Musik, viele weibliche Elektro-Künstlerinnen, die ihre Stimme bearbeiten, z. B. Katie Gately, Holly Herndon und Laurel Halo. Das ist im Moment die eine Sache, die sich für mich anhört, als wäre es der Sound unserer Zeit.

Ich wünsche mir heute, ich hätte in »Retromania« ein Kapitel am Ende, das optimistischer ist. Ich hätte mich mehr umgeschaut nach Leuten, die versuchen, neue Musik-Technologien zu entwickeln, neue Dinge zu machen oder Visuals und Sound auf neue Arten zu verbinden. Es scheint auch ein Interesse daran zu geben, neue Instrumente zu erfinden, also physikalische Objekte, nicht nur neue Programme.

Da du schon die Kombination aus Visuals und Audio erwähnst: Glaubst du, dass es hier Innovationspotenzial für Popmusik gibt?

Es gibt vieles mit einer starken visuellen Komponente, aber viele sehen sich selbst eben primär als Musiker. Eine andere Seite betrifft die Konsumenten. Ich selbst hänge sehr am Sound. Und wenn man nur dem Klang zuhört, kann man nebenbei etwas anderes machen. Sobald eine voll entfaltete, multimediale Sache daraus wird, musst du dich hinsetzen und es ansehen. Ein wichtiger Teil von Popmusik war, dass sie der Soundtrack zum alltäglichen Leben sein konnte. Viele meiner größten Pop-Erinnerungen waren etwas, das ich im Fernsehen gesehen habe. Dieser Aspekt ist Teil der Popmusikgeschichte und er scheint schon eine neue Intensität erreicht zu haben.

Wenn ich »Retromania« im Nachhinein kritisch betrachte, würde ich sagen, dass ich mich sehr auf die Vorstellung von Sound, Musik und Genres fixiert habe. Ich habe nichts darüber geschrieben, dass jemand ziemlich traditionelle Musik machen kann, aber innovativ bezüglich seiner Texte oder Persönlichkeit sein kann. Janelle Monáe ist z. B. eine Künstlerin, die musikalisch nicht sehr innovativ ist, die aber visuell, bezüglich ihrer Texte und ihres Images bemerkenswert ist.

Was hat deine Perspektive darauf verändert?

Nach »Retromania« musste ich in Interviews und auf öffentlichen Veranstaltungen viel darüber reden und auch weitere Texte über das Thema schreiben. Da fallen einem Sachen ein, die man hätte ansprechen sollen. Oder Leute formulieren Kritik und man denkt über Gegenargumente nach. Das Buch an sich ist sehr gut, aber danach hätte ich eine stärkere Argumentation schreiben und viele andere Ideen mit an Bord nehmen können.

Ich bin mir nicht genau sicher, wie ich auf Glam als Thema für das nächste Buch kam, aber vielleicht durch das ganze Nachdenken darüber. Dort gibt es einige Figuren, die musikalisch nicht wirklich innovativ sind. Die neuen Elemente waren die Sexualität, Kleidung und diese Charaktere. Was Marc Bolan gemacht hat, basiert sehr stark auf Rock ’n’ Roll und 12-Bar-Blues, aber seine wirkliche Innovation ist seine ganze Persönlichkeit, seine lustigen Texte und seine komische Stimme. Ich beschrieb ihn mit einem Paradox: Er war ein richtiges Original, ohne dabei innovativ zu sein. Ich würde also Originalität und Innovation trennen. Innovation ist unpersönlicher und oftmals mit Technologie verbunden. In den 60ern waren es Neuheiten in Verbindung mit der Gitarre und Effekten, das, was Jimi Hendrix z. B. mit Feedback machte. In den 70ern und 80ern waren es Synthesizer, Drum-Machines und Sampler. Innovation zieht sich über die komplette Kultur. Bei Originalität geht es um das Individuum und eine einzigartige Vision in Worten oder Charakteren.

Könntest du »Retromania II« schreiben und würdest du das wollen?

Ich könnte zwar ein Buch schreiben, das so etwas wie die optimistische Antwort wäre, die Zukunft als Vorstellung in der Popkultur behandeln würde und das Menschen betrachten würde, die versuchen, neue Dinge zu machen. Denn es gibt da draußen viele von ihnen. Aber ich weiß nicht, ob die Welt das wirklich braucht.

Reden wird Simon Reynolds trotzdem darüber und zwar am 28. April 2018 beim Donaufestival in Krems unter dem Motto »Absent Futures, Present Pasts – Temporalities In Today’s Music« – im Gespräch mit Jens Balzer (Autor und Kulturjournalist) und Christian Höller (Mitherausgeber der Zeitschrift Springerin und Autor).

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