Voodoo, Disco und griechische Mythen

Arcade Fire breiten griechische Mythen auf karibischen Tanzflächen aus. Ihr Viertling “Reflektor” ist ein 75-minütiges Ungetüm teils wagemutig, teils verspielt und auf keinen Fall ignorierbar.

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Arcade Fire, 2004 aus der Indieursuppe gekrochen, sind spätestens mit dem Grammy 2011 auf den Olymp empor gehoben worden. Bleiben wir bei der griechischen Antike und zwar mit der tragischen Geschichte von Orpheus, dem großen Sänger und seiner geliebten Eurydike. Ein weiteres Mal erhebt sich der Götterknabe aus dem Hades und zwar als Leit- und Coverbild des neuen Doppelalbums “Reflektor”. Entgegen den Erwartungen ist dieser Orpheus jedoch schwarz, ein Sohn der 80er und versiert in heißen karibischen Tänzen.

LCD Bowie

Die nach dem Album betitelte Single führt ein, in eine Welt des Rhythmus, der Synthies und des Dancepop. Wie eine anfangs undefinierbare Origami-Verpackung entfaltet sich “Reflektor” zum verdienten Titeltrack des Albums in dessen Mitte sich ein Gastauftritt von David Bowie himself befindet. Sein Name hat jedoch mehr Gewicht, als die schmale Gesangsbeigabe die er beisteuert. Wo wir gerade bei Namedropping wären: Mitverantwortlich für die Dancefloor-Eskapaden zeigt sich kein geringerer als LCD-Soundsystem Kopf James Murphie, der als Koproduzent im Hintergrund seine Fäden zieht.

Fest in dem Spektrum der 80er verhaftet erinnert “We Exist” anfangs noch an eine Billy Idol-Hommage, arbeitet sich jedoch durch geschicktes Ineinandergreifen zu einer Ode an den Discopop auf, um mit dem Chorus „Down on your knees/ begging als pleases/ praying that we don’t exist“ gedehnt auszulaufen. Damit sind zwei Themen angesprochen, die bei Arcade Fire über die Jahre immer wiederkehrten: Zum einen der stetig vorangehende Aufbau innerhalb der Tracks, der sich Schicht um Schicht hin verdichtet, zum anderen der gesellschaftskritische Grundtenor der Band.

Studio 54 and Haitian Voodoo

Neben Discopop und dem Hang zur gesteigerten Größe ist die Karibik das vordergründige Thema auf dem Album. “Here Comes The Night Time” zollt dem südlichen Flair mit sommerlichen Hula-Klängen, einer treibenden Bassline und blumigen Synthies Tribut. Die Karibik, insbesondere Haiti, ist nicht nur geistige, sondern auch geographische Heimat von “Reflektor”, so wurden weite Teile des Albums auf der kreolischen Insel produziert. Der Klang laut Win Butler: „A Mash Up of Studio 54 and Haitian Voodoo. “ (BBC 1 Interview)

Eine kleine Ausnahme vom südlichen Flair bildet "Normal Person", hinter dem sich Rock-Riffs, Stakkato Piano und die revoluzzerische Infragestellung des Begriffs "Normal" verstecken. Mit verächtlichem Trotz in der Stimme fragt Butler „Is anything as strange as a normal person/ is anything as cruel as a normal Person“. Der Track ist inhaltlich das Pendant zu "Modern Man" auf "The Suburbs" und zugleich der musikalische Aufschrei des ersten Teils des Doppelalbums.

Akt II – Orpheus Rückkehr aus der Unterwelt

“Here Comes the Night Time II” bildet ähnlich wie “The Suburbs (continued)” den sakralen Counterpart zu Teil Eins und leitet mit behutsam gezupften Bassrhythmen und sphärischen Streichern einen Stimmungswechsel ein. Waren die Streicher in Part Eins noch subtiler in ein größeres Klangbild verwoben, bekommen sie hier endlich Platz zum Atmen und sich zu entfalten. Erfüllt von getragener Trauer bildet Vol. II das verzweifelte Klangbild des hadernden Orpheus, der sich ein Leben ohne seine geliebte Eurydike nicht vorstellen kann.

Den finalen Höhepunkt bildet “Afterlife” und begrüßt mit der zynischen Zeile „what an awful word“. Verzweifelte Energie und verliebte Frustration über die Frage nach dem Danach verleihen Afterlife eine Energie, welche in den davor liegenden 50 Minuten Crescendo und Rhythmus nicht erreicht wurden. Trotz grundlegendem Afrobeat präsentieren sich Arcade Fire näher an ihren Indiewurzeln als bisher. Eine harmonische Klangwolke die sich zu überlappenden Chorälen aufbauscht, um mit den Worten „It’s just an afterlife,“ hallend auszuklingen. Hier liegt das Potenzial für eine zweite Single, die es mit "Reflektor" aufnehmen kann. Eng daran gekoppelt bildet “Supersymmetrie” den läuternden, reinigenden und beruhigenden Abschluss und beschränkt sich in den letzten fünf der insgesamt elf Minuten auf sphärische Ambientsamples. Der Vorhang fällt, großes Pathos.

Mit "Reflektor" spielen Arcade Fire mit Retrospektive und den verschiedensten Genres, die sie im Verlauf der Tracks gekonnt verdichten, um schlussendlich in der gewohnt vielschichtigen Arcade Fire-Orgie zu enden. Wo man das Album nun einordnen soll? Ganz oben – wie immer bei Arcade Fire.

"Reflektor" von Arcade Fire erscheint am 25. Oktober.

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