Weniger ist schwer

Die Plakate der Präsidentschaftskandidaten sind überklebt. Das Bedürfnis nach

einer Werte – Debatte bleibt. Einen ernstzunehmenden Versuch startet nun ethify.org. Kollaborativ soll eine Art weltlicher Bibel als alltagstauglicher Lebensleitfaden erarbeitet werden. Oberste Maxime: Alles muss weniger werden.

Vieles läuft falsch. Diese Überzeugung ist mehrheitsfähig, das Verdrängen ebenso. Die Ressourcen sind knapp, die Umwelt ziemlich versaut, das Wachstum endlich und die permanente Beschleunigung stößt viel zu oft an die Grenzen unseres persönlich Möglichen. Dass ein Lebensstil auf Pump früher oder später zum Kollaps führt, ist auch den allermeisten klar. Dieses Big Picture vor Augen könnte man schnell resignieren, irgendeiner religiösen Heilslehre anheim fallen – oder fokussieren und ganz im Kleinen bei sich selbst beginnen. Genau diesen Ansatz verfolgt das Projekt ethify.org aus dem Umfeld der Fachhochschule Vorarlberg. Es wurde in einer Lehrveranstaltung über »New Business Ethics« angeregt. Viele Studierende demonstrierten in ihren Abschlussarbeiten, wie sie im eigenen Umfeld begonnen hatten, ethischer zu leben und arbeiten. Initiator Roland Alton-Scheidl, der als weiterführende Diskussionsgrundlage neun Werte destilliert und einen Rahmen ausformuliert hat, gibt gar nicht vor, sein Exposé zu Ende gedacht zu haben. Er glaubt an die sogenannte »Schwarmintelligenz«, wie sie vielen jüngeren Geschäftsideen zu Grunde liegt, die letztlich erst von ihren Nutzern zur Marktreife weiterentwickelt wurden. Das Vorhaben von ethify.org, einen neuen nachhaltigen Wertekanon zu erarbeiten, propagiert dementsprechend ein gemeinschaftliches Work-in-Progress. Es liest sich als eine Poetik der kleinen Schritte, die nicht alle zwingend in die gleiche Richtung führen. Logisch, dass diese in der kreativen Klasse gelebte Praxis auch in der Theorie postideologisch bleibt. Solidarität ist hier – vielleicht wider Erwarten – kein Dogma. Aber durchaus Thema und in der »Kooperation«, einem der neun Werte, definitiv mitgedacht.

Schön und fast schon rittertugendhaft klingen auch die anderen acht angeführten Werte. Kaum jemand wird fundamentale Probleme mit »Fairness«, »Güte«, »Geduld«, »Zufriedenheit«, »Gerechtigkeit«, »Umsicht«, »Balance« und »Selbstbestimmung« haben. Der Teufel steckt im Detail – und dem, was nicht explizit angeführt wird. Freiheit etwa. Die ist natürlich in der Selbstbestimmung enthalten, wird aber durch Umsicht, Balance und Güte eingeschränkt, denn all das bedingt auch Verantwortung. Oberstes Credo in allen Kapiteln, die Roland Alton-Scheidl in einem Online-Wiki zur Debatte stellt, ist die Reduktion. Kernaussage: Es muss alles weniger werden. Fast alles. Denn weniger Arbeit und weniger Ressourcenverbrauch bringen in dieser jedenfalls nicht neoliberalen Logik automatisch auch größeres Gemeinwohl und größeres individuelles Glück. Darüber wird wohl zu diskutieren sein. Ebenso wie der Frage nachzugehen ist, wo eine nachhaltige Ethik im Spannungsfeld Werterelativismus und Wertekonservativismus anzusiedeln ist; ob hier am Ende gar so etwas wie weltliche ewige Werte propagiert werden.

Faktum ist: Diese Diskussion ist notwendig und ethify.org stößt in ein Vakuum vor. Die Wahlkampfmanager Heinz Fischers haben das allgemeine Bedürfnis nach einer Wertedebatte zwar gut erkannt und in seinem Slogan (»Unser Handeln braucht Werte«) thematisiert, und seine Mitbewerber haben sich bemüht, es aufzugreifen. Geblieben ist aber doch bloß Ernüchterung und herausgekommen ein Volksentscheid fürs geringste Übel. Denn eine Modernisierung oder gar ein zukunftsweisendes Wertegerüst personifizierte schlicht keine der zur Wahl stehenden Personen. Ein schlechtes Zeichen, wenn man bedenkt, dass das Amt des Bundespräsidenten ohnehin bloß ein repräsentatives ist und als »moralische Instanz« gilt. Die institutionelle Politik jedenfalls hat kein ernsthaftes Interesse, diese Debatte zu führen und eine Plattform wie ethify.org macht sich daran, sie nicht den alten und neuen Spießbürgern zu überlassen. Zum Glück. Denn die Moralkeule hängt wie ein Damoklesschwert im Raum – gerade weil wir wirklich mehr vom Weniger brauchen. An uns liegt es mitzugestalten, dass künftig nicht Verzicht und Selbstgeißelung, sondern eine genuss- und lustvolle Reduktion gepredigt wird. Im schlimmsten vorstellbaren Fall ließe sich nämlich sogar sexuelle Enthaltsamkeit auf ein Pepsi-Motto festnageln: reduce to the max.

Thomas Weber, Herausgeber

weber@thegap.at

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