Einen Tag Freigang der jungen Gefängnisinsassin mit ihrem Sohn. Schauspielerin Anna Suk kämpft sich als Kathi durch den Tag und ringt mit ihrem Dasein als Mutter. »Freigang« von Martin Winter wurde beim Österreichischen Filmpreis 2020 als Bester Kurzfilm ausgezeichnet. Der Film ist neu in der Cinema Next Series kostenlos zu streamen. Wir baten den Regisseur zum Interview.
»Freigang« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende und preisgekrönte Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.
In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Freigang«?
Martin Winter: Für mich geht es in »Freigang« unter anderem um das Muttersein. Da ist die junge Mutter Kathi, die im Gefängnis sitzt und ihrem Kind Christopher nicht das Leben bieten kann, das es verdient, aber es trotzdem versucht, auch wenn es für sie schmerzhaft zu enden scheint. Auch die Mutter von Kathi, die das Sorgerecht für das Kind hat, hat ihre Bürde zu tragen – hat sie doch wohl auch versäumt, ihrer Tochter Liebe und Geborgenheit zu geben, sich dadurch von ihr entfremdet. Aber es bedarf vielleicht nur eines gemeinsamen Trosts, um ihre Mutterinstinkte wieder zu erwecken. Und zuletzt Sylvia, die werdende Mutter, die ihrem Kind vermeintlich alles bieten kann, wobei aber die Frage im Raum steht, ob dies genug ist.
Jede Mutter will das Beste für ihr Kind. Für manche ist es leicht, alle Wünsche zu erfüllen – seien es die neuesten Spielsachen, Tanzunterricht oder die Extrakugel Eis am Strand. Doch das Essenziellste ist, Liebe und Geborgenheit zu geben. Geborgenheit in Form von Nähe und einem Heim, einem Refugium, in dem das Kind sich entwickeln kann. Kathi liebt ihr Kind, doch ein Zuhause kann sie ihm nicht geben. Umso getriebener sucht sie danach. Und am Ende trifft sie eine Entscheidung, die nicht jeder nachvollziehen kann, aber die dennoch jeden von uns ergreift.
In »Freigang« geht es um Versäumnisse, Ungerechtigkeiten, Trennung, Schmerz und letztlich um Liebe. Dinge eben, die jeden von uns betreffen.
Jungschauspielerin Anna Suk, die die junge Mutter Kathi spielt, trägt den Film. Sie ist auch in fast jeder Szene präsent. Wie habt ihr ihre Rolle erarbeitet?
Zunächst muss man sagen, dass Anna Suk wohl eine der talentiertesten Jungschauspielerinnen ist, die wir hier in Österreich haben. Sie bringt unfassbar viel emotionales Wissen und ein unglaubliches Verständnis für ihre Figuren mit.
Aufgefallen ist sie uns in einigen Kurzfilmen von der Filmakademie Wien und im Kurzfilm »Wannbe« von Jannis Lenz, in dem sie die Figur der jungen YouTuberin Coco mit einer faszinierenden Natürlichkeit und Präsenz spielt. Für uns war klar: Die müssen wir einladen und persönlich kennenlernen.
Sie bekam von uns das Buch zu »Freigang« vorab, damit sie die Möglichkeit hatte, sich schon in die Figur der Kathi einzufühlen. Meine ersten Fragen an Anna waren, was sie glaubt, wer Kathi ist und wie sie ihre Persönlichkeit sieht. Ihre Ansichten haben mich und den Drehbuchautor Sebastian Schmidl sofort beeindruckt. Im Idealfall stehen alle Antworten schon im Buch und die Kunst der Schauspielerin/des Schauspielers ist es, diese zu entschlüsseln und diese zu ihren eigenen zu machen. Anna hat sich förmlich vor unseren Augen in Kathi verwandelt. Bei den Dreharbeiten ging es dann oft nur um Details und Kleinigkeiten sowie den Rhythmus einer Szene und das Zusammenspiel mit den anderen DarstellerInnen. Und auch darum, dem damals dreijährigen Christopher und Anna, die am Set im Beisein des Kleinen ausnahmslos mit Kathi angesprochen wurde, genügend Raum und Zeit zu geben, ihre gemeinsame Beziehung zu stärken und zu intensivieren, damit eine Art Vertrautheit und Geborgenheit entsteht und damit Anna quasi als »neue« oder »alternative« Mutter akzeptiert werden kann.
Viele Szenen spielen in Wohnungen und anderen »geschlossenen« Räumen. Dennoch filmt ihr im breiten, »offenen« Cinemascope-Format. War das eine Herausforderung und wie habt ihr eure Bildsprache entwickelt?
Herausforderung war es keine, denn diese Entscheidungen trifft man ja im Vorhinein und bewusst. Ausgangspunkt war sicherlich mein persönlicher Geschmack; das heißt, dass ich mir den Film in diesem Format so vorgestellt habe. Folglich ist die Aufgabe natürlich, gemeinsam mit dem Kameramann Aram Baroian, Bildkompositionen zu kreieren, die einerseits »filmisch« sind, den Ort der Handlung gut einfangen und das Beste aus den SchauspielerInnen rausholen.
Der Geschichte muss die Wahl des Formats natürlich auch dienlich sein. Denn dass wir in vielen »geschlossenen« Räumen gedreht haben und dabei so »offen« mit dem Format sind, ist schon eine Ambivalenz in sich, genauso wie unsere Hauptfigur Kathi, die auf drei mal drei Metern eingesperrt ist und sich, als sie rauskommt, genauso erdrückt und bedrängt fühlt durch ihre Umgebung – sei es durch Räume oder Menschen. Auch war ein weiterer Aspekt in der Planung, Kathi oft in die Zentralperspektive zu geben, bewusst links und rechts Raum zu lassen, um die Bedeutung der Situation hervorzuheben und schlicht sich Anna Suks beeindruckendes »Mimikspiel« zunutze zu machen.
Kathi ist müde und verzweifelt, das Wetter winterlich trüb, ein gutes Ende nicht in Sicht. Der Dreh war hoffentlich nicht nur bitter: Kannst du etwas Lustiges von den Dreharbeiten berichten?
Sicher waren die Umstände des Drehs manchmal sehr anstrengend. Winterlich kalt und trüb, spontaner Schneefall, mit einhergehender Drehverschiebung, ein entzündeter Zahn, mit darauffolgendem Abbruch des Drehtags, kurze Tage und dem Hinterhereilen nach Tageslicht und einem dreijährigen Kind, das manchmal seinen eigenen Kopf hat. Aber dennoch waren die Bereitschaft aller und der Zusammenhalt immer spürbar und so gab es natürlich auch reichlich Schmunzler und Lacher am Set, und auch im Nachhinein denkt man oft gern zurück an diese Momente. Vor allem, wenn man im Schnittraum sitzt und einige dieser Besonderheiten in den Outtakes findet. Wenn zum Beispiel die Regieassistenz off frame auf dem Boden liegt, um mit dem kleinen Christopher ein Malbuch auszufüllen, damit es in der Kamera so aussieht, als würde er gespannt fernsehen. Oder unzählige Takes, bei denen versucht wird, den kleinen Christopher mit einer Chipstüte zu »locken«, damit er einmal durchs Bild läuft. An Kreativität mangelte es da nicht. Auch nicht, wenn plötzlich jemand vom Team »Eternal Flames« von den Bangles anstimmt und nach und nach das ganze Set mit einsteigt und durch ein Falsettsolo des Kameramanns ausgeklungen wird.
Was war für dich/euch die größte Herausforderung — oder auch Überraschung — beim Drehen von »Freigang«?
Die größten Herausforderungen waren wohl, den straffen Drehplan mit den vielen Location-Wechseln und den kurzen Tagen in Einklang zu bringen und dabei die Inszenierung auf das Wesentliche zu konzentrieren, damit noch genug Zeit für Improvisationen bleibt, die vor allem mit dem dreijährigen Christopher vonnöten waren. Einerseits kann dies sehr fordernd sein, wenn man immer wieder Geduld beweisen muss, bis eine Szene im Kasten ist, aber andererseits kann man auch durch kleine Unvorhersehbarkeiten überrascht und beschenkt werden, die der Kleine durch seine Unbefangenheit kreiert.
Was ist deine Lieblingsszene in »Freigang« und warum?
Eine Szene hat mir von Anfang an immer gut gefallen: Wenn Kathi aus dem Badezimmer kommt und die halb geöffnete Kinderzimmertür entdeckt, sich ihr schüchtern nähert und einen verstohlenen Blick durch den Spalt wirft. Wenn sie die Tür dann öffnet und ich in Annas Gesicht schau und tausend Dinge aus ihren Augen lesen kann. Ich mag die Stille und die Sanftheit, mit der Anna sich durch den Raum bewegt, wenn man nur vermuten mag, was alles in diesem Moment in ihr vor sich geht. Diese Szene ist für mich der Wendepunkt in der Geschichte, in der das Innere Bedürfnis Kathis offenbart wird, ihrem Kind etwas zu bieten, was für sie aber unmöglich scheint, aber für jedes Kind ein Grundbedürfnis ist: nämlich ein Zuhause und somit Geborgenheit und Fürsorge.
Dein Film wurde im Januar beim Österreichischen Filmpreis als Bester Kurzfilm ausgezeichnet. Gratulation! Was kommt bei dir als nächstes, ein Langfilm?
Danke! Aber diese Auszeichnung gebührt nicht nur mir alleine, sondern dem gesamten Team und vor allem meinen WegbegleiterInnen der ersten Stunde, also von der Entstehung der Idee bis hin zur ersten Projektion auf der großen Leinwand. Zum einen ist da Sebastian Schmidl, der nicht nur dieses wunderbare Buch geschrieben hat, sondern mit dem ich gemeinsam schneiden durfte, und zum anderen die Produzentin Victoria Herbig und der Kameramann Aram Baroian. Ohne die drei wäre »Freigang« nicht entstanden.
Momentan arbeite ich an einem weiteren Kurzfilmprojekt, zu dem Stefan Langthaler das Buch geschrieben hat, in dem es um das Schicksal zweier Menschen geht, das durch die aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation in Österreich bestimmt wird. Ein Langfilm ist natürlich immer in Planung, ich bin aber auch an spannenden Drehbüchern oder Geschichten interessiert von AutorInnen, die auf der Suche nach einem Regisseur sind.
Eine Interview-Reihe in Kooperation mit Cinema Next – Junges Kino aus Österreich.