Wie auch in anderen Kunstformen gibt es in der Fotografie Genres mit je eigenen Handwerkskriterien – diese bedeuten in der Street Photography mitunter etwas ganz anderes als bei Porträts oder Glitch Art. Mit digital gewachsenen Bearbeitungs- und Stilisierung-Skills ändert sich auch ein allgemeineres Verständnis, was Fotografie darf und kann. Jede/r FotografIn ordnet sich ein zwischen Inszenierung und Authentizität, Stilisierung und »Natürlichkeit«. Wo zwischen diesen Polen liegt heute die Kunst der Fotografie? Und gibt es dabei gemeinsame Nenner zwischen allen Genres?
Lies Maculan: Journalismus oder Kunst?
Kunst darf (fast) alles! … Und soll vieles. Vor allem soll sie frei und vielseitig sein. Das gilt natürlich auch für die Fotografie im Allgemeinen und für die Street Photography im Speziellen. Jede FotokünstlerIn muss für sich selbst entscheiden, ob er oder sie Motive für die Bildgestaltung inszenieren oder Authentizität zeigen will, ob auf Bildbearbeitung verzichtet wird oder sie ein elementarer Bestandteil der Arbeit ist.
In Bildern gibt es keine absolute Wahrheit. Das war immer schon so, auch bevor Bildmanipulationen am Computer möglich wurden. Ein Perspektivenwechsel oder ein anders gewählter Bildausschnitt kann von demselben Augenblick eine vollkommen andere Geschichte erzählen. FotokünstlerInnen haben Freiheiten, die FotojournalistInnen nicht haben. Bis heute ist nicht geklärt, ob das berühmte Foto »Loyalistischer Soldat im Moment seines Todes« von Robert Capa, das er im spanischen Bürgerkrieg aufgenommen hat, den Moment einfängt, in dem der Mann tödlich getroffen zu Boden stürzte, oder ob das Bild eine Inszenierung des Fotografen ist. Für mich ist die entscheidende Frage: Ist Capa Künstler oder Journalist? Für den Fall, dass er Künstler ist und er der Welt die Grausamkeiten des Krieges vor Augen führen will, ist ihm ein Meisterwerk gelungen, unabhängig davon, ob das Foto gestellt ist oder nicht. Ist er Journalist, steht seine Glaubwürdigkeit in Frage, wenn er die Aufnahme inszeniert hat. Denn die künstlerischen Freiheiten, die auch ich für mich in Anspruch nehme, gibt es im Journalismus nicht. Der Fotojournalismus berichtet objektiv über Tatsachen. Der Fotokunst steht es frei zu wählen, was sie mit ihrer Arbeit aussagen oder bewirken will und welche formal-ästhetischen oder technischen Mittel sie dazu verwendet.
Die Bildbearbeitung oder auch die Inszenierung sind Handwerke. Diese zu konzeptualisieren ist Kunst. Bei meinen »Photo Skulpturen« benütze ich Techniken, die das Auge des Betrachters »austricksen«. Zweidimensionale Fotografien wirken wie dreidimensionale Objekte. Diese Form der Irreführung ist wesentlicher Bestandteil dieser Arbeiten.
In meiner Street Photography möchte ich das Leben, die Menschen, die kulturelle und individuelle Vielfalt zelebrieren. Ich möchte ästhetische Bilder schaffen, die die BetrachterInnen berühren und an gewohnten Denkmustern rütteln. Damit mir das gelingt, optimiere ich meine Bilder. Ich verändere den Ausschnitt und die Farben. Ich begradige verzerrte Linien. Manchmal entferne ich störende Stromkabel. Ich bin Künstlerin und setzte mir bei der Bildgestaltung eigene Regeln. Das ist künstlerische Freiheit!
Lies Maculan, geboren 1977 in Wien, ist Fotografin und kann außerdem ein Postgraduate-Studium an der London School of Journalism vorweisen. Momentan stellt sie einige ihrer Werke im Rahmen von »Street. Life. Photography« im Kunst Haus Wien aus.
Stefan Oláh: Zeichnen mit Licht
»Echte« Fotografie bedeutet für mich, an Ort und Stelle und im Moment mit Licht zu gestalten und leidenschaftlich für das abzubildende Motiv zu brennen. Durch geschärfte Wahrnehmung und einen präzisen Blick ausgelöste Emotionen bildlich zu vermitteln, ist mein Ziel. Für die Aufnahmen arrangiere oder behübsche ich nichts, sondern suche den idealen Standort und wähle die Perspektive, die mir am besten geeignet erscheint. Vorab treffe ich eine Reihe von Entscheidungen: Welche Jahreszeit? Welche Tageszeit, welcher Sonnenstand? Und vor allem: Welche Witterung? Welche Wolkenstimmung? Bei Außenaufnahmen ist der Himmel oft die bildbestimmende und flächenmäßig größte Komponente der gesamten Komposition, also gebührt ihm höchste Aufmerksamkeit. Das setzt im Vorfeld oftmals lange Beobachtungsphasen voraus, die mit Aufzeichnungen und genauer Planung einhergehen, denn ich fotografiere nur mit »available light«, d. h. mit natürlichem bzw. mit vor Ort vorhandenem Licht.
Diese Arbeitsweise bringt meist lange Belichtungszeiten mit sich und erfordert den Einsatz eines Stativs. Konzentration und Genauigkeit sind bei der Arbeit auf kostspieligem analogem Großbildmaterial ohnehin unerlässlich, denn ich mache keine nachträglichen Korrekturen oder gar digitalen Retuschen. Meine sachliche, zugleich aber auch sehr sinnliche Sicht auf die Dinge erlaubt mir so eine Neubewertung des Vorhandenen. Intensive Recherchen zur Geschichte jedes einzelnen Baus bilden die Basis meiner Arbeit und der folgenden fotografischen Auseinandersetzung. Bei dieser Form von Architekturanalyse mit visuellen Mitteln ziehen mich immer wieder Gebäude an, deren Umbau oder Abriss unmittelbar bevorsteht. Ein letztes Mal versuche ich sie zu erkunden und umfassend zu dokumentieren, wie etwa das 20er Haus, den Südbahnhof, den Plenarsaal des Parlaments oder jüngst das Rinterzelt und das Rechenzentrum in Wien. Ich nehme es also sehr wörtlich, mit dem aus dem altgriechischen hergeleiteten »Zeichnen mit Licht« – und so sehe ich »echte« Fotografie. Deshalb finde ich aber die Arbeit von KollegInnen, die digital transformieren, modellieren oder bewusst Inszenieren nicht weniger spannend.
Stefan Oláh, geboren 1971 in Wien, studierte Fotografie in München. Er lebt und arbeitet in Wien und am Attersee. Von 1995 bis 2017 lehrte er an der Universität für angewandte Kunst Wien. Seit 2012 ist er Sprecher der IG Architekturfotografie.
Erli Grünzweil: Unsichtbare Qualität
So wie über die Oberfläche der Smartphones gestrichen wird, streicht auch der Blick über Bilder in sozialen Netzwerken. Bleiben die Augen kurz hängen, reagiert der Körper reflexartig mit einem doppelten Zucken in den Fingern. Die Bilderflut ist nichts Neues, wird aber immer intensiver und der Konsum davon gezwungenermaßen immer unbewusster. Teilt man Bilder im Feed oder in Storys, fühlt es sich an, als würden die Fotos und Videos direkt als Müll im Papierkorb landen. Bilder funktionieren für gewöhnlich über die visuelle Oberfläche und haben damit eine gemeinsame Konstante. Das Zustandekommen, das Gezeigte und die Absicht sind die Variablen eines Bildes, die bei der Bildproduktion bewusst eingesetzt werden können, um die Echtheit zu beeinflussen. Auf diesen Ebenen, die meist nicht vordergründig oder für das Auge nicht sichtbar sind, zeigt sich die Qualität eines Bildes. Das manipulierteste und das inszenierteste Bild kann echt und ehrlich sein in seiner Aussage. Jedes hybride Bild aus computergenerierten und linsenbasierten Aufnahmen kann echter sein als ein scheinbar uninszeniertes Bild einer Person bei einer Sightseeing-Tour vor dem Riesenrad. Eine Echtheit ohne Realitätsanspruch, die sich über eine authentische Idee und Intention der fotografierenden Person definiert. Dabei wird die Haltung der Person hinter der Kamera gegenüber Themen und dem Medium im Bild spürbar. Anders als bei Bildern, deren Ziel die maximale Anzahl an Likes ist und welche dabei oft einfache Reproduktionen von Trends sind. Echt kann jede Art von Bild sein, vorausgesetzt ein Mensch hat seine Finger im Spiel. Es ist unbedeutsam, welchem Genre es angehört und ob es Amateurfotografie mit dem Smartphone ist oder professionelle Ansprüche hat. Diese Denkmuster der Abgrenzung und Kategorisierung lösen sich stetig und sinnvollerweise auf. Genau so wie sich die Grenzen zwischen künstlerischer und kommerzieller Fotografie auflösen können oder zwischen statischem und bewegtem Bild. Diese Auflösung der Grenzen ist nicht immer einfach, aber es sind Entwicklungen, die neue Möglichkeiten schaffen, um relevante und echte Bilder zu produzieren.
Erli Grünzweil ist 1992 in Oberösterreich geboren, hat zwei Jahre als Grafik-Designer für The Gap und Biorama gearbeitet und studiert seit 2016 Angewandte Fotografie und zeitbasierte Medien an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Seine Arbeit liegt im Schnittpunkt von beobachtender und inszenierter Fotografie.
Lisa Edi: Echtheit wahrnehmen
Die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt von Fotos gibt es ja schon seit der Erfindung fotografischer Aufnahmetechniken. Auch das Thema Bildbearbeitung ist nicht erst seit Photoshop diesbezüglich relevant (ein paar Tools lassen sich ja sogar von der Dunkelkammer ableiten) und spätestens seit der benutzerfreundlichen Anwendungsmöglichkeit von Filtern am Smartphone ist die Nach- bzw. Weiterverarbeitung von Bildern allgemein gebräuchlich.
Welchen Einfluss diese technischen Möglichkeiten auf die Fotografie haben, wurde und wird in der bildenden Kunst zur Genüge verhandelt. Fragt man nach der Authentizität, Echtheit oder »Natürlichkeit« des Mediums, müsste man auf jeden Fall zuerst diese Begriffe klären. Wissenschaftliche Antworten darauf würden hier den Rahmen sprengen.
Versteht man Fotografie daher nicht als eine ausschnitthafte Darstellung eines (vergangenen) realen Moments, sondern wie die Sprache als eine Erzeugung von Wirklichkeit – etwas, das Realität formt und gestaltet –, ist die Suche nach dem Authentischen auch genreübergreifend nicht wichtig. Das bedeutet nicht, dass es ganz egal ist, wie sehr ein Bild bearbeitet wird oder nicht – oder noch fundamentaler, was und in welchem Kontext etwas abgebildet wird. Um es vereinfacht auszudrücken: Werden bei einer Baumarktwerbung der Mann mit der Motorsäge und die Frau mit der Farbrolle abgebildet, dann ist das gesellschaftlich genauso prägend wie der Verzicht auf eine gendergerechte Ausdrucksweise. Daher ist der Ausdruck einer politischen Haltung, derer man sich als Fotograf oder Fotografin sowieso nicht verwehren kann, für mich schon immer wichtig und spannend zugleich.
Und um auf die Frage zurückzukommen, wie »echt« Fotografie sein muss: Ich sehe es als Gegebenheit, dass sie das von sich aus nicht sein kann. Darum ist meine Gegenfrage wohl vielmehr: Welchen Einfluss hat die Fotografie auf die Wahrnehmung von Echtheit, Authentizität oder »Natürlichkeit« und wie kann ich mit meiner Arbeit normative Vorstellungen und konventionelle Sehgewohnheiten bewusst aufbrechen – im jeweiligen Kontext, in dem ich gerade agiere?
Lisa Edi hat zu Beginn des Jahres ihr Studium an der Universität für angewandte Kunst abgeschlossen und arbeitet als selbstständige Fotografin in Wien. Ihr Tätigkeitsfeld erstreckt sich über unterschiedlichste freie sowie kommerzielle Bereiche, bei denen eine konzeptionelle Herangehensweise immer eine essenzielle Rolle spielt.