Der Neue Zirkus ist ein umfassendes Kunstwerk, das aus mehreren Disziplinen schöpft. Weg von Tieren, Attraktionen, Wohnwagen, und meist auch weg vom Zelt.
Neue Bühne
Moderner Zirkus wird in unterschiedlichsten Veranstaltungsorten gezeigt. Das gestreifte Zelt, ein dominantes Symbol, muss nicht mehr sein. Denn als sich der zeitgenössische Zirkus verbreitet hat, haben auch große Theater und Opernhäuser begonnen, ihn in das Programm mitaufzunehmen. In vielen Ländern integrieren die Spielstätten die Shows bereits in ihr laufendes Programm, vor allem in Frankreich, Schweden und Kanada. In Frankreich haben staatlich subventionierte Produktionshäuser sogar die Verpflichtung, sich neben Theater, Tanz und Musik gleichwertig dem Zirkus zu widmen. In Österreich kaufen große Theaterbühnen generell keine Produktionen ein. Nicht nur die Finanzierung, auch eine geeignete Spielstätte ist daher für heimische Artisten unheimlich schwer zu finden.
So hat sich im Jahr 2012 das C3 Collective in Wien gegründet. Mit seiner Veranstaltungsreihe VarietEKH im Ernst-Kirchweger-Haus in Favoriten bietet die Gruppe neuen Künstlern und Künstlerinnen Raum für Experimente und Bühnendebüts. Was eingenommen wird, wird gespendet. Und: »Wir machen Zirkus mit politischem Anspruch und versuchen Hierarchien, zum Beispiel in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, abzubauen«, so Arno Uhl, Mitbegründer des Kollektivs und auch Artist beim Trio Dada Zirkus. In ihren Shows werden mittels Akrobatik, Jonglieren, Tanz und Theater moderne Märchen erzählt, die sich subtil zwischen Klischees und Fantasie bewegen.
Neuer Lebensstil
In Österreich gibt es keine Ausbildungsstätten für Menschen, die gerne Zirkus lernen möchten. In Nachbarländern reicht die Spannbreite hingegen von Frühförderung bis hin zum Universitätsniveau. Wer sich nicht für einen anderen Beruf entscheiden will, geht daher ins Ausland und kommt meist nicht mehr zurück.
Der Lebensstil von Zirkuskünstlern wird oftmals romantisiert als ein nomadisches Abenteuerleben in Zelt und Wohnwagen. Der wahre Alltag sieht jedoch anders aus: ständige Jobunsicherheit. Denn auch der traditionelle Zirkus ist extrem marginalisiert. Regelmäßig touren in Österreich derzeit noch drei größere Kompanien – Louis Knie, Pikard, Zirkus des Grauens – und etwa zehn kleinere Familien wie Circus Safari, Frankello oder Belly. Artisten müssen daher jeden lukrativen Auftrag annehmen, der sich anbietet. Sie halten sich mit Jobs im Entertainment-Sektor über Wasser, machen Corporate Events und Dinnershows. Auch, um dann ihre eigenen künstlerischen Kreationen zu finanzieren.
Neue Plattform
2012 hat sich der Österreichische Bundesverband für Zirkuspädagogik gebildet, eine erste Plattform zum Austausch und Netzwerken. KaOs gründete außerdem eine zweijährige Akademie für Erwachsene. Immerhin bekommt man ein Diplom, aber keine professionelle Ausbildung auf internationalem Niveau. Eines der Mitglieder ist der Kulturverein Fenfire. Gründer Sebastian Berger gilt als einer der wenigen Künstler, die in Österreich geblieben und weltweit in der Szene gut etabliert sind. Er war mit seiner hochklassigen Jongliertechnik im Finale von Circus Next, ein von der EU-Komission finanziertes Förderprogramm für aufstrebende Zirkusautoren. Erst seit fünf Jahren können er und seine Partnerin Christiane Hapt gut von der Zirkuskunst leben. Die sieben Jahre zuvor war es eher ein Überleben, wie Berger sagt.
Der zeitgenössische Zirkus und sein künstlerisches sowie gesellschaftliches Potenzial seien bisher unbeachtet geblieben. Obwohl auch große Institutionen, wie das Festspielhaus Sankt Pölten, bereits Zirkusproduktionen gebucht haben: »Seit Jahren schon kommen internationale Gruppen immer wieder nach Österreich. Sie werden aber nie als zeitgenössischer Zirkus deklariert«, so Berger. Beispielsweise war Jongleur-Größe Jérôme Thomas mit seinem Programm Rain/Bow zu Gast bei den Wiener Festwochen oder auch Zirkusperformer James Thiérrée, Enkel von Charlie Chaplin.
Berger wurde auch schon für klassische Opern und große Theaterbühnen gebucht, dort jedoch als »Stuntman« bezeichnet. Durch die neue Förderung erhofft er sich ein Aufbrechen: »Der Begriff Zirkus muss sich in Österreich erst finden, das betrifft Akteure und Publikum zugleich.«
Neue Performances
Die drei wichtigsten Festivals in Österreich, die sich auf Neuen Zirkus spezialisiert haben, sind das Winterfest in Salzburg und La Strada und Cirque Noel in Graz. Auch dort wurden bisher hauptsächlich internationale Kompanien eingeladen. Im diesjährigen La Strada-Programm findet sich etwa eine Produktion des schwedischen Circus Cirkör. Hinter ihrem Stück „Limits“ steckt eine hoch aktuelle, politische Message. Künstlerische Leiterin Tilde Björfos: »Wenn man Grenzen oder Einschränkungen überquert, erlebt man immer einen Moment des Chaos und der Verwirrung. Damit umzugehen, ist schwierig. Das ist die Situation, in der unsere Gesellschaft im Augenblick steckt. Höhere Zäune. Weitere Grenzen. Zusätzliche Kontrolle. Das Problem ist, wenn wir nicht Grenzen überschreiten, kann keine Entwicklung, keine Innovation und keine Kunst stattfinden.« Nur wenn man sich auch an Dinge herantraut, die anfänglich als unmöglich angesehen werden, könne sich die Welt vorwärts bewegen – so Björfos. Wie genau die Artisten diese Metapher dann mittels Körperakrobatik darstellen, davon darf man sich im Sommer selbst überzeugen.
Die neue Förderung zielt nicht darauf ab, noch mehr internationale Gruppen nach Österreich holen zu können. Primäres Ziel sei es vielmehr, heimische Produktionen zu fördern – so Karin Zizala, Abteilungsleitern der Sektion Kunst und Kultur im Bundeskanzleramt.
Fluch und Segen zugleich
Zusammenfassend ist die heimische Szene also den Nachbarländern noch weit unterlegen. Österreich schnitt sich durch seine bisherige Haltung selbst von internationalen Entwicklungen ab. Dadurch wurde auch stets die Chance übersehen, eine Ausdrucksform zu fördern, welche die Hemmschwellen zu zeitgenössischen Kunstformen nehmen könnte. Der Begriff »Zirkus« ist Segen und Fluch zugleich, so scheint es. Fluch, weil er automatisch Konnotationen hervorruft und deswegen oft abgelehnt und missverstanden wird. Segen aber, weil die Bezeichnung eben auch ein niederschwelliger Öffner zur Kunst für unterschiedliche, auch sonst eher kulturferne Publikumsgruppen sein kann.
Dieser Artikel soll übrigens nicht den traditionellen Zirkus diskreditieren. Denn wer heute eine Veranstaltung besucht, wird vielleicht merken: Clowns sind nicht so creepy, wie das Kind in einem vielleicht noch denken mag. Und eine essentielle Eigenschaft verbindet alle Zirkusformen, trotz ihrer unterschiedlichen Techniken und Ansprüche: außergewöhnliche Fähigkeiten, die einen staunend zurücklassen.
Das diesjährige La Strada findet vom 29. Juli bis 6. August in Graz statt. Für das Winterfest muss man sich – wie der Name schon vermuten lässt – noch etwas gedulden: Es wird vom 24. November bis 6. Jänner im Volksgarten Salzburg stattfinden.