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Gründe, Rainald Goetz gut zu finden und die als „111-Gründe“-getarnten Abfalleimer für alle eher nicht. Plus 33 Bonusgründe.

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Vor Kurzem habe ich Rainald Goetz in einem Youtube-Video gesehen, wie er wie besoffen vom Glück des deutschen Feuilletonismus strahlte. Für ihn, meinte Goetz heiter wie selten, gäbe es überhaupt nichts Erhebenderes als das Eintauchen in den Mahlstrom der großformatigen Zeitungen, der unablässig Deutungen produziert, Zusammenhänge stiftet und also Welt herstellt. Interessant erschien mir auch die Begründung, die Goetz für seine Obsession mit Leitartikeln und Leitkulturen anführte. Es ginge ihm, der ja schon immer für mehr Reizüberflutung und mehr Pop war, um einen Exorzismus des Narzissmus, um den Zustand weitgehender Selbstvergessenheit anstatt einer platten Selbstverwirklichung. Das Ich sei nämlich nicht immer eine Lust, sondern oft eine Last, die abzuschütteln eine lohnende Anstrengung sei.

Das Belauern von Bundestagsdebatten, Politikergesten und FAZ-Empfängen und die Bespitzelung des Treibens auf der Frankfurter Buchmesse etwa waren bei Goetz dann schon im letzten Buch »Loslabern« Resultate seiner fix eingeplanten Arbeitsurlaube vom Ich, das ansonsten im stillen Kämmerlein Gefahr lief, zuviel am »Abfall für alle« zu feilen. Das Getriebe des Feuilletons sei für ihn das Antidot zur Egomanie des Tagebuchs, der Goetz ja selbst ab und zu verfallen droht, wenn er eben nicht gerade liest und recherchiert – zum Beispiel für seine aktuelle, mit kaum prächtiger Verachtung für seinen Forschungsgegenstand versehenen Anatomiestudie des Wirtschaftslebens »Johann Holtrop«.

Besonders toll findet Goetz in den Medien das, was so viele habituelle Millionenshow-Wegzapper nervt: die Wiederholung, das Drama des ewig fast Gleichen. Oder, allgemeiner gesprochen: das Serielle. Jeden Tag ein neuer Ziegel, eine neue Seite, neue Bilder, und alles doch im vertrauten Format. Diese Serie hat – im Gegensatz zu den 86 Stunden mit den »Sopranos« oder den monatelangen Sitzungen im Bann von »The Wire« – wirklich nie ein Ende, alles muss täglich neu abgewogen werden. Gleichwohl hat diese von Goetz geliebte Einübung in die Routine, das Unvertraute, Neue der Welt zu fassen, nichts zu tun mit den oft den letzten Nerv ziehenden Routinen des Alltags. In Johann »Holtrop« heißt es im Hinblick auf die dahingebrabbelten Bürogespräche am Kaffeautomaten: »Im richtigen Moment konnte die deprimierende Abgedroschenheit des auf diese Art Dahergeredeten deshalb Wohlbefinden, ein Gefühl von Gerfahrlosigkeit, Vertrautem und Vertrauen in gesellschaftliches Gehaltensein hervorrufen, im falschen Moment Abscheu, Ekel, Hass auf die Demenz der Normalität.«


111 Gründe, zu zappen

Neulich fiel mir ein Verlagsprospekt in die Hände, der sich auch dem heiteren Gesetz der Serie verpflichtet fühlt und damit offenbar recht gute Geschäfte macht. Der Verlag ist auf leichte, erotisch eingefärbte Kost für junge Frauen spezialisiert. Seine Reihen heißen Girltalk, Lust und Liebe oder Anais. In diesen Reihen gibt es wiederum jede Menge Bücher, die sich an dem Titel dieser Kolumne Zahlen, bitte orientieren. Sie heißen zum Beispiel: 111 Gründe, eine beste Freundin zu haben, 111 Gründe, Single zu sein, 111 Gründe, SM zu lieben, 111 Gründe, Hunde zu lieben oder 33 Männer in 33 Tagen oder Meine 33 Online-Dates oder 33 wahre Geschichten über Wohnkonzepte, oder, als Crossover-Titel, 111 Gründe, Heavy Metal zu lieben plus 33 Bonusgründe oder 111 Gründe, Katzen zu lieben plus 33 zusätzlichen Gründen.

Das Prinzip der Aufzählung findet sich auch in vielen neuen TV-Formaten, die so heißen, wie sie aussehen: von den besten Hits der 70er Jahre über die größten Hollywoodskandale, bis, schön selbtreferentiell, zu den größten TV-Skandalen aller Zeiten. Glaubt man den Kaffeesudlesereien der Fernsehprofis, dann sind diese TV-Serien auch deshalb im kulturindustriell hysterisierten Countdown-Modus angelegt, weil man dadurch jederzeit einsteigen kann. Man versäumt ja nicht wirklich etwas beim Zappen oder aufs Klo gehen, wenn man Platz 9 versäumt, und man versteht auch danach alles. Nun könnte man aber zurückfragen: Wenn man immer aussteigen kann in der Hitparade der sexiesten Blondinnen aller Zeiten oder bei Grund 79 bis 81, Heavy Metal zu lieben, wozu sollte man dann eigentlich überhaupt erst einmal einschalten oder reinlesen? Denn dafür fallen einem leider weder 111 noch 33 Gründe ein.

33 Gründe für 111 Gründe

Aufällig ist, dass solche Bücher nicht als klassische Ratgeberliteratur in dem Sinn verstehbar sind, dass sie Entscheidungsfindungen in schwierigen Lebenssituationen zu erleichtern vorgeben. Dafür sind sie schlicht zu affirmativ. Man macht sich nicht einmal die Mühe, der Katzenliebhaberin, der SM-Freundin und der Freundin der Idee einer besten Freudin ein dann eh auseinandergepflücktes Scheingegenargument an den Kopf zu werfen, sondern führt, halbironisch gebrochen durch die Vorgabe der Anzahl der Gründe, bloß in vielen Variationen vor Augen, warum es bitte schon ok ist, Tier-, SM- oder beste Freundin-Fan zu sein. Das ist nun zwar für das Publikum nicht gerade neu. Aber wenn es ok ist, dann ist auch die Leserin oder der Leser ok. Feeling good is being good.

Bei Goetz hingegen ist es genau andersrum. Wenn er sich an Guttenberg oder Merkel oder Schirrmacher abarbeitet, will er sich nicht bestärkt fühlen. Sondern er will etwas rauskriegen, was weder 111 noch 33 Gründe hat, sondern sich nur als Text darstellen lässt. Und was die versprochenen 111 Gründe für Goetz betrifft: Die anderen 110 sind seine Stimme und 109 seiner akkurat sitzenden Haare.

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