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Popalben wurden 2010 allein in Deutschland veröffentlicht – mehr als doppelt soviel wie ein Jahrzehnt zuvor. Über den Glauben an die Zukunft in Pop und Architektur.

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Nicht nur ein schon ein wenig älteres Kode 9 Dubstep-Album, sondern auch eine gleichnamige Website widmen sich einem Thema, das man in den Sixties wohl noch gar nicht verstanden hätte: Memories of the Future. Den verheißungsvollen Look einer Zeit, die mit Science-Fiction noch den Weg in ferne Galaxien und nicht den dystopischen Umschlag in das Apokalyptische hier bei uns ums Eck assoziierte, wurde durch schick-abgründigen TV-Serien nochmals zum Geschäftsmodell, exemplarisch im Mode- und Moralzauberstück »Mad Men«. Jetzt läuft in den USA ein Abkömmling namens »Pan Am« – der nächste Rückgriff der Fernsehmacher auf das Zahnpastalächeln der JFK-Epoche, als Nomaden noch Globetrotter, Kapitäne noch Playboys und fliegende Kellnerinnen noch Stewardessen waren.

Patina des Aufbruchs

Wer heute vorne sein will, blickt gar nicht selten gern zurück und sieht im Rückspiegel eine Zeit, die zumindest für die Privilegierten noch eine Zukunft zu haben vermeinte und nicht so verdammt kompliziert war wie heute. In der mit Geheimagentenflair herausgeputzten Vintage-Ästhetik von »Pan Am« findet die Sehnsucht nach Glamour-Märchen die Insignien eines noch nicht von den zermürbenden Genderstellungskriegen angekränkelten Lebensstils. Diese überträgt man in eine Gegenwart, in der Musiker wie Leyland Kirby zielsicher neben der Spur herumeiernde Platten machen, die »Leider ist die Zukunft auch nicht mehr das, was sie einmal war« heißen. Weil uns Zukunft kaum mehr anders vorstellbar erscheint als die Verschärfung aller Krisen, mit denen wir uns bereits heute herumschlagen müssen, wenden viele den Blick nach hinten. Anlässlich von Omis Geburtstag schmiert der junge Mensch von Welt daher mit dem Hipstamatic-Filter vorsorglich ein wenig Patina aufs Bild. Fürs wohlig knisternde Home-DJ-Set lädt man sich Plattenknackser-Apps herunter und ergötzt sich zur Entspannung bei »Mildred Pierce«, dem TV-Remake eines Film-Noir-Klassikers mit Kate Winslet.

Simon Reynolds hat mit »Retromania«, seiner Anklageschrift gegen die Vergangenheitsverklärung der Nullerjahre, offenbar in ein Wespennest gestochen. Allerortens wird nun gefragt, wie retro das Durchstöbern der Archive eigentlich wirklich ist. Wollen Revivals etwas vom guten Alten reaktivieren, dass es so gar nie gab – oder wiederholt sich ohnehin nichts als das, was es einmal war? Sind Rückbesinnungen auf die Vergangenheit per se konservativ oder sehnt man sich verständlicherweise nach jenen Erfahrungen zurück, die kollektive Momente des Aufbruchs versprachen? (Man muss ja nicht gleich von Utopien sprechen.)

Reminiszenz an Science-Fiction

Viel von Utopien habe ich unlängst in Innsbruck gehört. Dort ging es allerdings nicht um die Popkultur, sondern um Architektur. Der Rahmen des Abends vermittelte den retrofuturistischen Charme des Industriezeitalters: ein Stellwerk im Bahnhof mit Aussicht auf die Gleise, darunter drei Waggons, dahinter das Hin und Her der Züge. Die verschlungenen Entwürfe und die um Visionshaftigkeit bemühten Schlagwörter in den Austellungswaggons hatten es in sich; es ging um die Verschränkung von virtueller Realität und realer Virtualität, man testete mit der Leichtigkeit der digitalen Träumen die Grenzen der analogen Räume aus.

Der Projektname der jungen Architektengruppe Columbusnext dafür war dementsprechend neusprechmäßig gelabelt: »extensions express utopic class«. Nach der Eröffnung wurden dann noch Arbeiten von Mitgliedern des ausstellenden Netzwerks Horhizon vorgestellt. Da geht es nicht nur um liquid wirkende Metamorphosen und kühne Formverschraubungen, sondern unter anderem um Strommasten, die aussehen, als wären sie Reminiszenzen an Menschmaschinen – Kreationen aus der Science-Fiction. Auffällig in all diesen Gedankengebäuden war, dass die in der Popkultur und in der nicht ohne Grund sich als postavantgardistisch verstehenden Kunst häufig beschädigte oder ganz verabschiedete Zukunftsgläubigkeit hier wenig Platz zu haben scheint.

Die Kaputtheit der Zukunft manifestiert sich vielleicht eher in retrokontaminierten, beschwörerisch-tribalistischen oder vom Nachhall vergangener Intensitäten heimgesuchten Musikstilen oder in der Weltuntergangsverliebtheit des Gegenwartskinos. Die jungen Architekten aber (und ihr nicht mehr ganz so junger Professoren-Mentor) gaben sich als Nachfahren der Sixties-Euphorie, die an die Errettung der Welt durch die Neudeutung und Neuerfindung ihrer Räume glauben. Heroen von damals wie Archigram, Haus-Rucker-Co oder Coop Himme(b)lau wurden in der Diskussion durchgewunken, während musikalische Fanbekundungen von Wolf D. Prix an die Rolling Stones schon eher als Wilder-Hund-Nostalgie abgetan wurden.

Angenommen, so ein kurzes Eintauchen in die Architektenszene wie meines in Innsbruck hätte etwas Repräsentatives: Woher kommen der Wunsch nach soviel Veränderung und soviel Glaube an ein anderes, besseres Morgen? Fest steht jedenfalls, dass Architekten viel entwerfen und selten etwas verwirklichen. Bei Musikern ist es umgekehrt: Es wird wahnsinnig viel produziert, aber keiner sieht mehr den Entwurf einer fundamentalen Innovation. Die Musiker stehen auf Bühnen, füllen die iTunes-Listen und müssen sich dann dem Vergleich mit dem Rest stellen. Die Architekten basteln so wie die Musiker auf ihren Rechnern herum und haben ein Problem damit, fertig zu sagen. Aber sie wissen zumindest, dass das, was sie visionär empfinden, es auch bis auf Weiteres bleiben kann, weil es sich nicht erproben und abnutzen lassen muss.

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