Die Welt, in der wir leben, wird immer komplexer und komplizierter – so eine häufige Argumentation. Gefolgt vom beliebten Stehsatz, dass früher alles besser gewesen sei. Warum Letzteres nicht stimmt und endgültige Antworten auf offene Fragen schwierig zu geben sind, erklärt Peter Klimek.
Woran arbeiten Komplexitätsforscher wie Sie, wenn nicht gerade eine Pandemie ins Haus steht?
Peter Klimek: Wir verstehen Komplexität als technischen Ausdruck, der nichts mit dem zu tun hat, was gemeinhin darunter verstanden und mit »kompliziert« synonym verwendet wird. Bei uns geht es darum, Systeme zu verstehen, die aus vielen Teilen bestehen, aber trotzdem mehr sind als die Summe dieser Teile. Da geht’s um Themen wie Emergenz und Synchronisation. Von der Methodik her arbeiten wir datenbasiert, quantitativ und formalwissenschaftlich. Das urtypische Anwendungsbeispiel ist eben die Infektionsausbreitung, aber auch die Systemstabilität an sich sowie Sicherheit in der Versorgung und Probleme in der Lieferung – wie es jetzt mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine wieder aktueller wird.
Lässt sich aus Ihrer Sicht sagen, dass unsere Welt eine immer komplexere wird?
In der Komplexitätsforschung sagen wir: context matters. Bis in die 70er-, 80er-Jahre hat man sich entweder sehr kleine Systeme sehr genau angeschaut, weil man dann auch ohne Computer die Chance hatte, die einzelnen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen und einzuarbeiten. Andererseits wurden große Systeme so beschrieben, als wären alle Details gleich. Wie wenn ich beispielsweise in der Physik annehme, dass sich alle Wassermoleküle gleich verhalten. Auch komplexe Systeme können sehr simple Eigenschaften haben. Unsere Welt wird immer ausdifferenzierter und spezialisierter. Insofern nimmt auch die Komplexität zu, weil die Kontexte immer unterschiedlicher werden.
Viele alltägliche Lebensbereiche sind mittlerweile stark digitalisiert und globalisiert, die Folgen eigener Handlungen scheinen oft schwer abzuschätzen. Macht eine steigende Komplexität unser Leben auch komplizierter, gar schwieriger?
Ich bin mir nicht sicher, ob sich das qualitativ so stark verändert hat in den letzten Jahren. Gesellschaft funktioniert ja gerade durch diese Aufgabenteilung und durch eine gewisse Spezialisierung. Dass jede und jeder von uns nicht alles kann und sich nur auf einen gewissen Teil konzentriert, das ist schon länger so. Was sich natürlich geändert hat, ist die Zeitskala dieser Entwicklungen. Man wird mehr und mehr zu einem kleinen Zahnrad und die Geschwindigkeit der Entwicklungen steigt rasant. Zu behaupten, dass früher alles besser war, halte ich für verklärend. Alle Indikatoren deuten darauf hin, dass unser Leben besser wird. Beispiel Lebenserwartung. Die ist heute viel besser, als sie es vor ein paar Jahrhunderten war. Perverserweise findet heute eine Verklärung der traditionellen Medizin statt, die bis hinein in die Wissenschaftsskepsis geht. Auch qualitativ betrachtet war das Leben für durchschnittliche Wiener*innen vor 500 Jahren sicher nicht besser als heute.
Warum suchen nach wie vor große Teile der Gesellschaft nach einfachen Antworten? Welche Kompetenzen empfehlen Sie sich anzueignen, um mit diesem Drang umzugehen?
Man kann auch einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen geben. Die sind dann halt meistens falsch, und dann muss man dazusagen, warum sie falsch sind. So kann man Sachverhalte auf unterschiedlichen Ebenen kommunizieren. Bestimmte Zusammenhänge erklärt man dem Kleinkind anders als der Großmutter und dieser wiederum anders als einem Hochschulprofessor. Es ist eine Stärke der Wissenschaft, dass man vereinfachte Erklärungsmodelle angeben kann, bei denen man bestimmte Aspekte versteht, aber eben nicht alles. Und dann versucht man, immer zutreffendere Antworten zu finden.
Besonders für Forschungstreibende ist die Herausforderung, mehr Transparenz zu schaffen und die Dritte Mission der Universitäten (ihre Erkenntnisse für den Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen zu kommunizieren und nutzbar zu machen; Anm.) entsprechend ernst zu nehmen, die jetzt im Forschungsalltag zu kurz kommt, weil es wenig Ansporn gibt, sich da einzubringen. Auf gesellschaftlicher Ebene haben wir den Umgang mit der Digitalisierung noch nicht richtig hinbekommen. Damit meine ich die Entstehung von Echokammern oder Filterbubbles – ebenfalls ältere Phänomene, die sich gerade beschleunigen.
Abseits von der Aufrechterhaltung einer kritischen Geisteshaltung und dem Versuch, sich bei mehr als einem Medium zu informieren, hilft es, wenn man Menschen vertraut und sich an denen orientiert, die sich besser auskennen als man selbst. Außerdem hilft folgender Ansatz: Wenn jemand für ein komplexes Problem eine einfache Antwort anbietet, dann hätten wir vielleicht das Problem gar nicht, wenn die einfache Antwort stimmen würde.
Peter Klimek ist Physiker und Komplexitätsforscher am Complexity Science Hub Vienna und an der Medizinischen Universität Wien. 2021 wurde er vom Klub der Bildungs- und Wissenschaftsjournalist*innen als österreichischer Wissenschafter des Jahres ausgezeichnet. Wegen der Coronapandemie war er zuletzt mit seinen Modellen und Erklärungen häufig in österreichischen Medien zu Gast.
Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.