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65 Jahre danach kehrt ein 89-jähriger Ex-Häftling nach Auschwitz zurück. Nicht um zu trauern, sondern um tanzen. Move your mind and your ass will follow?

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Die Folge 39 aus der vierten Staffel von Larry Davids Comedy-TV-Serie „Curb Your Enthusiasm“ heißt „The Survivor“. Sie erzählt von der naturgemäß hochnotpeinlichen Zusammenkunft eines Holocaust-Überlebenden und eines jungen, unbedarften Mannes, der sich ebenfalls „Survivor“ nennt, da er in der gleichnamigen US-amerikanischen Reality-Show mitgemacht hat. Zwischen den beiden entsteht ein grotesker Streit darüber, wer denn nun Schlimmeres in seinem „Camp“ durchgemacht hat. Die Komik in diesem (in anderem Zusammenhang nur obszön zu nennendem) Wettstreit um das schwerere Leid entsteht dabei aus der Fallhöhe zwischen dem absoluten und daher auch unsagbaren Schrecken und der Trivialität heutiger Extremerfahrungsquasseleien im TV-Scheinwerferlicht. Auch im Dschungelcamp hätten sie schließlich „no snacks“ gehabt, insistiert da der junge Mann. Der Alte kann es nicht glauben und wird immer wütender, der Rest der Tischgesellschaft in der Szene macht einen Intensivkurs in Sachen Fremdschämen, und wir vor dem TV-Schirm dürfen dazu auch noch ein wenig über die Selbstviktimisierungsmanie der US-Gesellschaft lachen: „I´m a survivor! – No, I am a Survivor!“.

„I Will Survive“ heißt auch ein inzwischen einigermaßen abgenudelter Hit aus dem Jahr 1978. Gloria Gaynors Disco-Hymne sorgte in den letzten Dekaden nicht nur für so manche Buchhalterexstase on the dancefloor, sondern steht auch im schwulen Nachtleben nach wie vor hoch im Kurs. Nun allerdings taucht der Stomper in einem Zusammenhang auf, den man noch vor wenigen Jahren für undenkbar gehalten hätte. Ein sehr alter Mann mit einem „Survivor“-T-Shirt-Aufdruck tanzt in rührigen Bewegungen, wie man sie auch aus der Rentnerrock- Doku „Young at Heart“ kennt, dazu. Flankiert wird er von seiner Tochter und drei Enkelkindern. Die Kulisse zu dem Song über erlittene Demütigung und gloriose Wiederauferstehung aber ist die Kulisse des industrialisierten Massenmords: Theresienstadt, die toten Gleise, die zu den ehemaligen Vernichtungslagern führen, der in seinem Zynismus kaum zu überbietende Schriftzug „Arbeit macht frei“ über dem Tor von Auschwitz, eine Synagoge und ein Viehwagon, aus dem der betagte Adolek Kohn mit freundlicher Miene hervorlugt.

Das von Kohns Tochter, der australischen Künstlerin Jane Kohn gedrehte Video haben sich mittlerweile einige hunderttausend Menschen im Netz angesehen. Besonders in Deutschland und Israel wird es sehr kontroversiell diskutiert. Darf man oder kann man Auschwitz einfach wegtanzen? Wo endet die künstlerische Herausforderung unseres Geschichtsverständnisses und wo beginnt die ästhetisierte Entwürdigung der Opfer? Die Empörung über die „Respektlosigkeit“ des Videos bzw. dessen Verteidigung als später Triumph des Lebens über den Willen zum Genozid reihen sich so ein in eine traditionsreiche Debatte. Sie hebt an mit Adornos kurz nach Kriegsende getätigter Einmahnung eines ästhetischen Verstummens von der singulären Monstrosität des Holocausts und entwickelte sich später anhand der Frage, wie man vom Holocaust überhaupt sprechen kann, wenn man von ihm nicht schweigen will oder kann. Heute überschwemmt uns Fernsehzuschauer die nicht nachlassende Hitler-Verliebtheit im internationalen TV-Geschäft mit immer wieder ähnlichen Narrationsformen und eher dürftigen Deutungsangeboten, während einzelne herausragende Filmemacher wie Alain Resnais oder Romuald Karmakar über die Jahre teils radikale Annäherungen an das kaum zu Begreifende erprobten.

Naschen am Nazi-Kuchen

Gleichwohl war die Bilderindustrie im Großen und Ganzen immer daran interessiert, auch den Holocaust erzählbar zu machen, ihn also auf identifikations- und empathieheischende Plots – wie etwa exemplarisch in Spielbergs Drama „Schindlers Liste“ – herunterzubrechen. In den letzten Jahren naschen aber auch andere Medien der globalen Popkultur immer stärker an dem großen Kuchen namens Nazivergangenheit mit. Comics, Computerspiele und andere YouTube-Phänomene wie etwa der Hitlerrede/Gerhard Polt-Mash-up scheren sich wenig um etwaige Tabus des Sag- bzw. Sichtbaren. Auch manche Spielfilme wenden sich von der vorherrschenden Anmutung des Seriösen (hinter der sich oft genug der menschelnde Kitsch verbirgt) und knüpfen lieber an die hierzulande verschütteten chaplinesken bzw. britisch-anarchische Traditionen der Naziverhöhnung an. Bei Helge Schneider schrumpft der große Führer etwa zur plärrenden Schmalzlocke, und das an den Zionismus anknüpfende Credo Claude Lanzmanns für ein wehrhaftes Judentum bzw. ein neues Israel wird von Quentin Tarantino in eine knallpoppige Rachephantasie umgedeutet.

Das „Dancing Ausschwitz“-Video von Jane Kohn fährt so gesehen also schon auf einem gut bestellten Feld seine Ernte ein. Dabei setzen die Befürworter dieses popkulturellen Toleranztests vor allem auf das Moment der Selbstermächtigung. Wer dürfte es den Opfern verbieten, ihren Blick auf die eigene Geschichte auf eine Weise zu variieren, dass sie ihnen etwas anderes bietet als die ständige Rückbestätigung ihres eigenen Traumas? Dabei wird freilich vorausgesetzt, dass wir es hier auch mit einer korrekten Repräsentation zu tun haben. Das vermeintlich oder tatsächlich Authentische des Falls begründet die Legitimität der Kunst. Der 89-jährige Survivor „spielt“ sich schließlich selbst im Video; er darf das, weil er es selbst erlebt hat. Wäre aber das ganze Unterfangen plötzlich illegitim, wenn sich herausstellte, dass Jane Kohn für ihr Video x-beliebige Schauspieler angeheuert hat, die keinerlei persönlichen Bezug zum Holocaust haben?

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