65.000

65.000 Patente besitzt allein das chinesische Telekommunikationsunternehmen Huawei. Und das, obwohl Copyright und Originale in China angeblich nichts gelten.

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Man kennt das Gemaule: ein italienisches Modelabel, ein französischer Parfümhersteller, ein deutscher Ingenieur erfinden etwas, und die chinesische Wirtschaft imitiert die Erfindung. Im Silicon Valley wird programmiert, in Shanghai wird das Programm verwendet. Hollywood filmt, und in Peking verkauft man auf der Straße die Raubkopien. Die Kunstwelt malt, und in China gibt es ein eigenes Künstlerdorf, das Nachahmungen auf Bestellung im Akkord anbietet. China, so das gängige Urteil, ist eine Nation von Kopisten, die sich weder scheut, eine Reproduktion der berühmten Terrakottaarmee auf Museumstouren einzuschmuggeln und diese nach Auffliegen des Schwindels als gleichwertig mit dem Original auszugeben, noch das Beste aus anderen Ländern anzueignen. Die medial geschürte Angst vor der neuen Supermacht fördert das antichinesische Ressentiment, das in etwa so geht: Die Chinesen sind erstens zu viele, und zweitens gemein, denn sie kennen keine Ehre.

Dass die Chinesen allesamt Betrüger sind und deswegen nicht einmal ein schlechtes Gewissen kennen, weil sie den Betrug nicht als Betrug anerkennen, davon war schon Hegel vor rund 200 Jahren überzeugt. Die Chinesen handelten »auf eine listige und abgefeimte Weise«, weshalb sich die Europäer hüten sollten, mit ihnen Handel zu treiben. Woher aber kommt diese moralische Verworfenheit? Hegel befragt seinen Weltgeist, und der gibt ihm die Antwort: Der Buddhismus ist schuld. Als Religion bete er das Nichts an und betrachte die Verachtung des Individuums als höchste Vollendung des Daseins.

Der in Seoul geborene und in Karlsruhe lehrende und ein Büchlein nach dem anderen veröffentlichende Philosoph Byung Chul-Han widmet sich in seinem bei Merve erschienenen Essay »Shanzhai« dem fernöstlichem Verhältnis zu Original und Fälschung, Ursprung und Modifikation, Echtheit und Fake. Kann es sein, dass die fernöstlichem Kultur und Tradition dem westlichen Denken über geistiges Eigentum widerspricht? Chul-Hans These ist steil: China hat niemals, wie der Westen, eine Dekonstruktion nötig gehabt, denn China bzw. der Ferne Osten denkt immer schon dekonstruktivistisch. Chul-Han bemüht dazu auch eine Analogie aus dem Schiffswesen. Wenn ein Schiff nach einer langen Reise um die Welt, bei der in diversen Häfen irgendwann jede einzelne Schraube ausgewechselt wurde, mit mittlerweile neuer Besatzung in den Heimathafen einer Stadt einläuft, deren Bewohner längst andere sind – ist es dann überhaupt noch dasselbe Schiff, das einst dort vom Stapel lief? Gegen die westliche Metaphysik von Sein, Wahrheit, Schöpfung, Wesen und Substanz setze das von solchen Metamorphosen inspirierte fernöstliche Denken auf das Lob des Prozesses und des Wandels, basierend auf einem Nihilismus, der aus dem Nichts trotzdem etwas macht – sei es durch Nachahmung, Kopie, Aneignung, Zitat, Umarbeitung oder Verbesserung des Vorgefunden.

Shanzai – die Welt als Fake

Shanzhai ist das chinesische Wort für Fake. Shanzhai kennt nicht nur schlechte Markenkopien, wie wir aus schlechten Reportagen zu wissen glauben, sondern auch Handys, die spannendere Apps haben als das Original. Zum Beispiel – ausgerechnet – eines zur Falschgelderkennung. Mittlerweile hört eine ganze Kultur auf das Wort. Es gibt Shanzhai-Bücher, Shanzhai-Filme, Shanzhai-Stars, Shanzhai-Abgeordnete und Shanzhai-Nobelpreise. Chul-Han geht sogar so weit, den Maoismus als einen Marxismus-Fake zu betrachten: Der Maoismus, behauptet er, ist ein Shanzhai-Marxismus, weil er einerseits die fehlende Industriearbeit im ländlichen China kurzerhand durch Bauern ersetzt und zweitens so hybride und wendig gebaut ist, dass er sich nun auch noch den sogenannten Turbokapitalismus aneignen kann und vielleicht zu einer Shanzhai-Demokratie mutieren wird.

Nun könnte man an dieser Stelle sicher einwenden, dass auch das vorrevolutionäre Russland von 1917 nicht industrialisiert war (was auch schon von vielen Historikern bemerkt wurde) und folglich auch niemand ernsthaft behaupten würde, es hätte jemals etwas anderes gegeben als Adaptionen und Abwandlungen einer idealen revolutionären Situation, die im Sinne von Marx einen entwickelten Kapitalismus voraussetzt. Viel grundsätzlicher könnte man fragen: Heißt das, dass die westliche Dekonstruktion uns nun den Weg zu einem Denken ebnet, das China immer schon besaß? Und umgekehrt: Inwieweit verändert sich in einer globalisierten, »chinesisch« hybridisierten Welt nicht auch eine kulturelle Konstruktion wie der Ferne Osten durch wahrheits- und substanzzentriertes Denken?

Mittlerweile sind die Verhältnisse wechselseitiger Durchdringung ja längst so fortgeschritten, dass die copyrightversessenen US-Industrielobbys das Klagen auch nicht mehr gepachtet haben. Neun chinesische Autoren forderten unlängst 1,88 Millionen Dollar von Apple, weil ihre Werke als illegale Downloads in Apples App Store angeboten wurden. Der Computerkonzern profitiere direkt von den verkauften, unautorisierten Downloads der Bücher, so der Vorwurf. Umgekehrt singen Gipfelstürmer der westlichen Kulturinnovation das Loblied der Übung. Soziologen wie Richard Sennett erinnern an die Segnungen des Handwerks und an die beflügelnde Kraft der Wiederholung, die erst ganz langsam die Fähigkeit zur Erneuerung schafft. Martin Scorsese, der einstige New Hollywood-Star, verneigt sich vor den »alten Meistern«: »Ich fühle mich immer noch wie ein Student. Es gibt immer noch so viel zu lernen.« Die chinesischen Traditionalisten, die jahrhundertelang fleißig Altes kopierten und dabei sachte mehr und mehr umschrieben, würden dazu wohl nicken – und vielleicht einmal ihren Shanzhai-de-Niro im Shanghai-Taxi fahren lassen.

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