Am sechsten Tag des Dokumentarfilmfestivals Ethnocineca wurde u. a. ein Film über das kanadische Einwanderungssystem gezeigt. Am Abend kamen bei der Award-Verleihung Involvierte und Interessierte für die Ehrung der prämierten Filme zusammen.
Dienstag, 17. Mai
Einen mit Spannung erwarteten Höhepunkt der Festivalwoche bildet die Award-Verleihung am Abend des sechsten Festivaltages. Außerdem sind natürlich auch weitere Filme im Programm.
Große Themen, keine Annäherung
Um 17 Uhr feiert beispielsweise »Resources« von Hubert Caron-Guay und Serge-Olivier Rondeau seine Österreichpremiere im Votiv Kino. Die Beschreibung des Films liest sich vielversprechend. Er thematisiert die kanadische Einwanderungspolitik und wie unter dem Deckmantel einer menschenfreundlichen Asylpolitik Migrant*innen ausgebeutet werden. Die eingewanderten Menschen berichten von ihren Erfahrungen aus der Heimat und ihren Beweggründen, nach Kanada zu migrieren. Ein zweiter Erzählstrang porträtiert die Fleischwirtschaft durch die filmische Darstellung von überfüllten Schweine- und Kuhställen.
Wichtige, große Themen sind das – leider wird ihnen »Resources« nicht wirklich gerecht. Es wird nicht ganz klar, was der Film aussagen möchte. Die zwei Erzählstränge laufen nebeneinander her, finden dabei keine erwartete Annäherung. Nur der Filmtitel lässt die Intention vermuten, die hier zugrunde gelegen sein könnte. Nach Ende des Films – einige Zuschauer*innen verlassen den Saal bereits während des Abspanns – machen sich teils ratlose Gespräche breit. Der seltene Fall, dass eine Ethnocineca-Film die hohen Erwartungen nicht erfüllt.
Preise, Preise, Preise
Um 20 Uhr ist es dann so weit: der Höhepunkt des Abends. Juror*innen, Unterstützer*innen und Interessierte sowie einige Filmemacher*innen finden sich im Votiv Kino für die Awards-Verleihung ein. Die Stimmung ist feierlich und familiär. Verliehen werden Auszeichnungen in fünf verschiedenen Kategorien, die mit einem Preisgeld von 500 Euro für Kurzfilme und 1.000 Euro für Langfilme dotiert sind.
Die erste ausgezeichnete Dokumentation des Abends – sie erhält den Austrian Documentary Award (ADA) – ist »Uncomfortably Comfortable« von Maria Petschnig. Der Film wurde in New York City gedreht und setzt sich mit Wohnungslosigkeit und Rassismus auseinander, mit den Auswirkungen von Inhaftierung und Traumata, aber auch mit dem Thema Freundschaft. Dafür begleitete die Filmemacherin den Protagonisten Marc ein Jahr in seinem Leben in freiwilliger Obdachlosigkeit. In ihrer Dankesrede spricht sie über ihre Beweggründe, diesen Film zu verwirklichen. Die Stadt sei ein Ort des Paradoxen: Überfluss und Reichtum seien oft nur einen Block entfernt von Armut und einem Leben am Existenzminimum. Die Ungleichheit der Bevölkerung sei dabei alltäglich beobachtbar.
Der zweite Preis geht an »In Flow of Words« von Eliane Esther Bots. Die Dokumentation wird mit dem International Shorts Award (ISA) ausgezeichnet und direkt im Anschluss gezeigt. Er gibt starke private Einblicke in die Gedanken- und Arbeitswelt dreier Dolmetscher*innen des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Als Vermittler*innen ist es ihre Aufgabe, sachlich und unvoreingenommen als neutrale Instanz zwischen den Prozessbeteiligten zu stehen. Dabei bekommen die Zuschauer*innen tiefe Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonist*innen, welche selbst in Jugoslawien geboren wurden und den Krieg vor Ort miterlebten. Anders als es im Gerichtssaal der Fall ist, stellt die Dokumentation diese Menschen in den Mittelpunkt und zeigt durch sie Perspektiven, welche der Welt normalerweise verborgen bleiben.
Die Erzählungen über die grausamen Verbrechen sind schwer zu ertragen. Sie lassen erahnen, welche emotionalen und psychischen Auswirkungen die stetige und ungefilterte Konfrontation damit auf die Dolmetscher*innen haben muss. Bots verwendet mit Symbolik durchzogene Bildsprache, die mit dem gesprochenen Wort zusammenfindet.
Populismus und Propaganda
Im Anschluss daran wird der International Documentary Award (IDA) verliehen. Trotz der bedrückenden Impressionen aus dem vorangegangenen Kurzfilm löst sich die Stimmung im Saal rasch wieder und die Besucher*innen erwarten gespannt die Verkündung der Preisträger*innen: Svetlana Rodina und Laurent Stoop konnten die Jury mit ihrem Film »Ostrov – Lost Island« überzeugen. Die beiden Filmemacher*innen begleiteten die Bewohner*innen der Insel Ostrov, die der russische Staat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sich selbst überlassen hat. Aufgearbeitet wird, wie ein Staat durch Populismus und Propaganda sogar von ihm vernachlässigte Menschen an sich binden kann.
Als Nächstes wird der Ethnocineca Student Shorts Award (ESSA) – ein Publikumspreis – an »Sealand« von Paul Scholten, Conrad Winkler und Matthäus Wörle verliehen. Auch dieser Film wird den Besucher*innen der Veranstaltung direkt im Anschluss gezeigt. Er bietet Einblicke hinter die Kulissen der Verschiffung von Gütern auf den Weltmeeren und porträtiert die Menschen, die für den reibungslosen Ablauf des globalisierten Warenverkehrs sorgen.
Im Zentrum von »Sealand« steht das gesprochene Wort, während die Bilder eher als Kulisse dienen. Die auf den Schiffen beschäftigten Arbeiter sind meist von den Philippinen. Sie berichten – in Anbetracht von schwierigen Arbeitsbedingungen, Heimweh und Rassismus – von ihren Erlebnissen und aus ihrer Gedankenwelt. Die Art und Weise, wie der Film ihre Stimmen im Vordergrund hält und dabei subtile aber deutliche Kritik an diesem System der Ausbeutung übt, beeindruckt. Ein eindringliches Stilmittel der Erzählweise ist dabei die Verwendung des Tons, der die Atmosphäre des Lebens auf dem Schiff einfängt und den Zuschauer*innen vermittelt.
Nachdem der Applaus für »Sealand« verhallt ist, wird der letzte Award des Abends verliehen: »Perpetual Person – Persona Perpetua« von Javier Bellido Valdivia erhält den Excellence Visual Anthropology Award (EVA). Der Film porträtiert den Alltag der an Alzheimer erkrankten Großmutter des Filmemachers. Die Jury lobt die Darstellung der Intimität der zwischenmenschlichen Beziehung, die gezeigten Bilder sowie die sensible Erzählweise.
Das Festival Ethnocineca zeigt noch bis 19. Mai 2022 internationalen ethnografischen Dokumentarfilm im Votiv Kino sowie im De France.
Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Schreibstipendiums, das die Ethnocineca gemeinsam mit The Gap vergeben hat. Weitere Einträge in unser Ethnocineca-Festivaltagebuch findet ihr hier.