Imoan Kinshasa beschäftigt sich hier mit den großen und kleinen Fragen zu Feminismus. Diesmal mit Autismus als vermeintlichem »Trend« und dem sexistischen Bias in der Medizin.
Immer mehr erwachsene Menschen, allen voran FLINTA*, werden als autistisch diagnostiziert. So auch ich. Natürlich war ich nicht vom einen auf den anderen Tag vom Autismus »besessen«. Die Erkenntnis kam schleichend, der Autismus war schon immer da. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich endlich den Brief mit der Diagnose in meinem Postkasten fand. Konzentriert habe ich mich durch sieben Seiten medizinisches Blabla gekämpft, bis es auf der letzten Seite lautete: »… zeigt eindeutig die Merkmale einer Asperger-Autismus-Störung.«
Das hat einiges verändert, obwohl an mir nichts anders war. Autismus ist der Sammelbegriff für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung und wird meist schon im Kindesalter diagnostiziert. Wenn man online nachliest, erfährt man, dass die meisten Betroffenen Probleme mit Kommunikation, sozialen Kontakten oder Spontaneität haben. Autismus ist ein Spektrum, jede autistische Person hat andere Stärken, Schwächen und Probleme.
In den Medien dominiert das Bild vom stoischen Nerd. Man denke etwa an Sheldon Cooper (»The Big Bang Theory«), der seinen perfekten Sitzplatz mit seinem Leben verteidigt. Gleichzeitig muss ich an mich denken, denn auch ich habe für mich absolut gute Gründe, warum ich genau da oder dort sitzen muss, sonst bekomme ich schlechte Laune. Oder nehmen wir Shaun aus der Serie »The Good Doctor«, der vor seinem inneren Auge die menschliche Anatomie in 3D abrufen kann. Auch das kann mein Gehirn bewerkstelligen.
Das autistische Stereotyp ist ein emotionsloser, roboterhafter weißer Mann, meist hochintelligent, aber ohne soziale Kompetenzen. Er wirkt fast kindlich, wenn es um »Erwachsenensachen« geht – etwa selbständig zu wohnen und sein Leben zu organisieren. In der Realität sieht es so aus, dass ich viele Emotionen habe. Manchmal vielleicht zu viele. Ich kann euphorisch werden bis zu einem High-Gefühl. Ich kann traurig sein, bis es mich innerlich zerreißt.
Bevor ich den Termin vereinbart habe, um mich testen zu lassen, habe ich mich ein halbes Jahr mit dem Thema auseinandergesetzt. Ausschlaggebend für mich war Tiktok. Ich konnte mich ein bisschen zu gut mit einem Mädchen identifizieren, dass dort über sich und ihren Alltag sprach. Der Algorithmus hat mir immer mehr ähnlichen Content in meinen Feed gespült. Mehr und mehr Menschen berichten vom großen Erwachen durch Social Media und erkennen sich in Tiktoks über Autismus wieder, was wiederum zu mehr Diagnosen führt, weil sie dadurch bestärkt werden, Ärzt*innen zu konsultieren.
Klarheit
Ich hatte endlich eine Antwort darauf, warum ich so starke emotionale Reaktionen auf Situationen habe, die für andere eine Kleinigkeit sind. Es tut gut zu wissen, dass es nicht meine Schuld ist, dass ich zwischenmenschliche Codes nicht verstehe. So habe ich also eine Community gefunden, die mich dazu ermutigt hat, weiter nach Antworten zu suchen. Böse Zungen behaupten, der beschriebene Anstieg wäre ein Trend. In Wahrheit ist jedoch einfach der Zugang zu Informationen diesbezüglich einfacher geworden, daher diagnostizieren sich mehr Personen selbst, bevor sie Fachpersonal aufsuchen. Was in der Community genauso angenommen wird wie ärztliche Diagnosen. Dieser »Trend« hat vielen von uns das Leben verbessert.
Mir wurde bewusst, dass meine späte Diagnose eine Kombination aus sexistischen und rassistischen Biases war. Eine Problematik in der Medizin, die bereits in einigen Fachartikeln belegt wurde. Viele Prozesse und Untersuchungen wurden für den weißen, männlichen Patienten optimiert. FLINTA* schauen dabei durch die Finger – besonders nicht-weiße.
FLINTA* berichten regelmäßig, dass sie spät diagnostiziert wurden, einige sogar erst im Rentenalter. Wie ich hatten sie vorangegangene Diagnosen wie Depressionen, Borderline oder Bipolare Störung. Und das, obwohl man rückblickend die Anzeichen erkennt.
Meine Lehrer*innen haben auf meinem ersten Zeugnis schon Anmerkungen über mein Verhalten gemacht, die man dem Autismus-Spektrum zuordnen kann. Die Anzeichen waren da, sie waren offensichtlich, aber weder Psycholog*innen, Lehrer*innen noch Psychiater*innen haben es geschafft, mir eine Diagnose für meine Probleme zu stellen. Da ich kein ruhiger, in sich gekehrter Bursch war, wurde ich halt einfach als komisch abgestempelt. Das Kind hatte halt keine Eltern, wuchs bei den Großeltern auf.
Verlustängste und Angststörungen waren meine erste Diagnose im Grundschulalter. Probleme und Schwierigkeiten, die ich im Alltag hatte, wurden mir als persönliche Schwäche präsentiert.
Die Diagnose hat mich zu einem freien Menschen gemacht. Ich kann achtsam mit mir und meiner Energie umgehen, weil ich mich kennenlernen konnte. Fehler kann ich mir leichter verzeihen, meine starke Gefühlswelt habe ich gelernt zu akzeptieren.
Ich habe es sogar geschafft, meine Stärken und Talente hervorzuheben, von denen einige dem Autismus zuzuschreiben sind. Man kann sagen, ich bin endlich mit mir im Reinen und kann leben, anstatt zu überleben. Wenn andere von meiner Diagnose erfahren, kühlt die Stimmung aber oft ab. Die oben beschriebenen Stereotype haben ein Bild davon in die Köpfe der Menschen gebrannt, wie Autist*innen zu sein haben.
Es gibt viele undiagnostizierte und unerkannte Autist*innen in unserer Gesellschaft, denn einige verstecken ihre Diagnose im Alltag, weil sie Repressionen befürchten. Auch ich verheimliche sie oft aus Angst, als unzurechnungsfähig abgestempelt zu werden. Jahrelang galt ich als neurotypisch und gesund. Mich also nun, nach einer offiziellen Diagnose, plötzlich anders zu behandeln, so, als wäre ich geistig stark beeinträchtigt, ist ableistisch. Lasst uns an einer Gesellschaft arbeiten, in der sich niemand mehr verstecken muss.
Imoan Kinshasa ist per Mail unter kinshasa@thegap.at sowie auf Twitter unter @imoankinshasaa zu erreichen.