Anlässlich von »Hyperreality«, dem Clubfestivalformat der Wiener Festwochen, kommt das Tanz- und Musikkollektiv »Qween Beat« mit ihrem Voguing-Showcase nach Wien. Wir blicken auf die Entstehungsgeschichte des Tanzstils zurück und stellen die lokale Voguing-Szene vor.
Nördlich vom Central Park, zwischen der 5th und 8th Avenue, beginnt der New Yorker Stadtteil Harlem – Epizentrum afroamerikanischer Kultur in den USA. Wie es wohl für nahezu jeden Centimeter der Hauptstadt gilt, hat Gentrifizierung hier schon längst ihren Lauf genommen. Ungeachtet dessen, lässt sich die Grenzziehung, beispielsweise zwischen East Harlem und der Upper East Side, noch immer gut nachvollziehen, sieht man doch auf der einen Straßenseite teure Wolkenkratzer, denen gegenüber Sozialbauten gelegen sind. Der Oral History zufolge ist genau an dieser Schnittstelle zweier Welten »Voguing« entstanden. In der Black und Latino Culture der LGBTIQ*-Szene, so heißt es, fühlten sich sozialschwächere New YorkerInnen inspiriert von den sogenannten »Reichen und Schönen«, die auf der 5th Avenue flanierten. Speziell weiße Frauen waren es, die als Vorbild galten – jene, denen Dank der Geldbörse des Ehemanns die Welt zu Füßen zu liegen schien; jene Frauen, die in den Modemagazinen posierten und deren Gesichter die Cover der Zeitschriften zierten.
Die Ballroom Szene galt als Treffpunkt von queeren People of Color und lokalen Dragqueens. Sie war in erster Linie eine Sammelstelle für gesellschaftlich ausgestoßene, die gemeinsam Bälle organisierten, auf denen man gegeneinander antrat. Der Anspruch sich einander im Wettbewerb zu begegnen mag im ersten Moment ein wenig befremdlich anmuten; dieser Aspekt gab den Teilnehmenden jedoch vor allem eines: Selbstwertgefühl. Man war es wert gegen andere anzutreten – das, was man hier machte, wurde geschätzt und verhalf zu Siegen: »snatching trophies«.
Um bei den Bällen miteinander zu konkurrieren, adaptierte man Verhaltensmuster und Codes weißer Frauen, um sie in Tanzschritten zu übersetzen. Die Posen der Models bei Fotoshootings wurden nachgestellt, die Handgesten nachgemacht und die Attitüde stark überhöht. Für diese Kunstform des Imitierens schuf man Kategorien, verschiedene Anforderungen betreffend: Von den Fähigkeiten beim Tanzen, über Mode, bis hin zu Authentizität. Bei letztgenannter Kategorie wird die »Realness« zum Beispiel daran gemessen, wann eine Identität so vorgetäuscht werden konnte, dass sie glaubhaft erschien. Sobald ein/e TänzerIn sich so zu bewegen vermochte, so zu verkleiden vermochte, dass sie als wirkliches weibliches Model, als Geschäftsfrau oder Geschäftsmann, je nach Kategorie, durchgehen konnte, dann hieß es »10‘s, 10’s. 10‘s across the board« – die Jury war zufriedengestellt und vergab Höchstpunktzahlen.
Meine kleine (queere) Familie
In Konkurrenz zueinander bildeten sich »Houses«, die unter anderem nach Modemarken benannt waren, darunter: Balenciaga, Yves Saint Laurent, Mugler. Strukturiert waren diese Häuser, wie Familien. Es gab Dragmütter und Dragväter, die ihre Schützlinge anleiteten. Im Gegenzug brachte erfolgreicher Dragnachwuchs dem Haus Prestige ein. Die starke Verbindung zwischen den Häusern, der Community und der Musik sieht auch MikeQ, der mit seiner Qween-Beat-Crew in Wien bei Hyperreality zu Gast ist als essentiell: »It’s our thing, our fun, our freedom, our space to be ourselves, our music it’s like all in the bloodlines. Nothing works really without the other and the way the scene has been set up, those unwritten rules of the Land.«
Die Geschichte der einzelnen Häuser, ist auch eine Geschichte und ein Zeugnis davon, wie queere Jugendliche aufgrund ihrer Sexualität oder ihrer Geschlechtsidentität oftmals von ihren Familien verstoßen worden sind und noch immer verstoßen werden. Zahlen aus dem Jahr 2012 zeigen, dass sich unter obdachlosen Jugendlichen in den USA bis zu 40% als LGBTIQ* identifizieren. Die Szene wird zu einem Familienersatz. »When someone has been rejected by their mother and father or family and the get out into the real world, they search for someone to fill that void.«, so beschreibt es Peppa Labeija, die 30 Jahre lang als Dragmutter das House of Labeija führte.
Der Weg in den Mainstream
Die Szene war lebendig; die Szene war umkämpft; die Szene blieb nicht unbemerkt. Mitte der 1980er Jahre besuchte die junge, weiße, lesbische Filmemacherin Jennie Livingston erstmals einen Ball und war beeindruckt vom »Voguing«, von der Energie und Hingabe, mit der die TänzerInnen performten. Livingston entschloss sich dazu, einen Dokumentarfilm über die Ballroom Szene zu drehen. Dragqueens und Transfrauen öffneten sich ihr in Gesprächen und machten sie mit Sprache und Codes vertraut. »Paris is Burning« wechselt viel zwischen Interviews mit etablierten älteren TänzerInnen, jungen queeren Dragqueens und Transfrauen, Aufnahmen einzelner Bälle und Titeleinblendungen, die in Drag- und Ballroom Vokabular einführen.
Der Film wird ein Überraschungserfolg. Während sich die Finanzierung als überaus schwierig gestaltet hatte – kaum jemand wollte Geld für einen Film über LGBTIQ* Menschen beisteuern, erst recht nicht, wenn es sich dabei um People of Color, also einer Subkultur innerhalb einer Subkultur, handelte – so wurde das Screening beim Sundance Film Festival 1991 zum Durchbruch für »Paris is Burning«. Miramax sicherte sich die Verleihrechte und zeigt den Film überregional; der Film spielt knapp vier Millionen Dollar ein. Eine beachtliche Summe für einen Low Budget Dokumentarfilm.
Fast zeitgleich werden zwei Mitglieder des House of Extravaganza als Tänzer für Madonnas Blonde Ambition Tour angeworben. Madonna macht den Tanzstil, den sie zum ersten Mal in der »Sound Factory« in Chelsea sieht, mit ihrem Song »Vogue« weltberühmt.
Wie »Voguing« in eine Krise gerät, wie sich der Tanz seit dem Entstehen verändert hat und wer in Wien so »vogued« – darum geht es auf der zweiten Seite.