Die Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie mal war

Die Gruppe Tocotronic erzählt auf »Die Unendlichkeit« Autobiografisches. Ein Konzeptalbum, ein Experiment. Aber vor allem alles andere als Koketterie des Establishments.

Ist das die Kälte der neuen Biederkeit? Vorerst nicht. Denn, dass Tocotronic zum 25. Bandjubiläum ein Konzeptalbum präsentieren, das gar autobiografisch aus Dirk von Lowtzows Leben – vom Stöpsel zum Grandseigneur, vom Provinzbürschchen mit komischer Frisur zum Subjekt reichweitenstarker Relevanz, vom Erst- zum Letztverliebten – erzählt, ist keine spießige Koketterie des Establishments. Es ist ein Experiment, keine Frage, entsagt aber jeglicher Zerfahrenheit durch das Korsett. Ketten sind zum Sprengen da, hätte vermutlich Mitte der 1990er getextet und – gerade jetzt lustig: Klischees – auf Trainingsjacken genäht werden können. »Die Unendlichkeit« ist viel mehr als entrücktes Konstrukt vermeintlicher Besserwisser, wahrhaftig eine Hymne auf das Format Album, ein Lobgesang auf die Emanzipation des Selbst, auf die Befreiung durch Landflucht und die erst wieder einengenden Strukturen und die vermeintliche Dekadenz des städtischen Mikrokosmos.

In aller Deutlichkeit: Was Dirk von Lowtzow auf »Die Unendlichkeit« zu weit gespanntem klangbildlichem Bogen zu erdichten vermag, sucht seinesgleichen, vielleicht sogar im gesamten Œuvre der an ebenjenem nicht gerade armen Gruppe – es ist das zwölfte Album. Wobei: Es ist auch einfach; das autobiografische Element macht es vermeintlich so. Besonders knackig und konzise sind – c’est la vie – die Coming-of-Age-Minidramen. Etwa die Top-Empfehlung »Electric Guitar«, das vom Entdecken des Subjektivierungs- und Individualisierungstools Gitarre erzählt, vom »Teenage Riot im Reihenhaus« und von »Manic Depression im Elternhaus«. Oder das von McPhail’schem Hall & Wahn getriebene »1993«, das von der Flucht nach Hamburg erzählt, wo Place erstmals wirklich Space war.

Was wirklich spannend ist: Selbst seltene Momente der Nostalgie sind völlig mieffrei, der Versuch, Biederkeit anzukreiden, schier chancenlos. Etwa »Es gab noch keine Handys / Es war alles Gegenwart / Die Zukunft fand ausschließlich / In Science-Fiction-Filmen statt« (»Unwiederbringlich«). Die Zukunft war gestern nicht. Die Zukunft ist heute auch nicht. Gut, dass das Gestern und Heute aber mit Tocotronic waren und sind.

»Die Unendlichkeit« von Tocotronic erscheint am 26. Januar 2018 via Rock-O-Tronic/Universal. Tocotronic spielen am 13. April im Republic in Salzburg und am 28. Juli Open Air in der Arena.

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