Rast’ ich, so rost’ ich – Sigrid Viir »False Vacationer«

Sigrid Viir deckt in der Ausstellung »False Vacationer« die Unter­grabung von Freizeit durch ein System auf, das den Selbst­optimierungs­wahn und verdeckte Arbeit fördert. Präzise und gewitzt wird das Streben nach ständigem Fortschritt hinterfragt. Ein Plädoyer für reuelosen Müßiggang.

© Sigrid Viir »Destination Superlative«, 2019, Foto: Simon Veres

Beim false vacationer verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit. Das Office wird zum Home­office, der Urlaub wird zum Power-Nap. Sigrid Viir greift damit einen ganz aktuellen Diskurs auf und analysiert in einer reduzierten, aber intelligent pointierten Neuauflage ihrer Ausstellung von 2019 (EKKM, Tallin) die Implikationen eines Arbeitskults, der an welt­anschauliche und lebens­philosophische Grundsätze gebunden ist. Es stellt sich nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Arbeit, sondern auch nach der Möglichkeit einer Loslösung vom ewigen Schaffens­druck der Konsum- und Produktions­gesellschaft.

Der Begriff ist Roland Barthes »The Writer on Holiday« (1954) entlehnt: Hier scheint die Figur des false vacationers, ein Schriftsteller, weder je zu arbeiten, noch zu ruhen. Sogar am Strand liest er noch Bücher. Er ist ein false worker und also ein false vacationer. Was hier noch auf einige wenige, vor allem kreative und von der Bourgeoisie romantisierte Berufe zutraf, ist mittlerweile Realität großer Teile dessen was »zeit­genössische Arbeit« ausmacht: Flexibilität und Verfügbarkeit, Eigen­verantwortung, unbezahlte Arbeit und Identifikation mit dem Job. Gleicher­maßen ist auch der »zeit­genössische Urlaub« betroffen, der zielorientiert in Angriff genommen wird, sei es als konsumgesteuerte Schnitzeljagd auf gute Fotos zur Profilierung und Bereicherung oder als explizite Verweigerung des Produktionszwangs.

Verzwickte Tragik

Als Analyse des Problems liefert Viir eine schematische Darstellung der passenden Stichworte in einem Diagramm (»Souvenirs of the False Vacationer«, 2019). Die Einhaltung sachlicher Distanz lässt die verzwickte Tragik des Konflikts fast komisch erscheinen: Wie lässt sich Urlaub mit einem ökologischen Bewusst­sein gestalten? Wie der Ausbeutung des eigenen Arbeits­ethos und sozialen Engagements entgehen?

Die Arbeit »Destination Superlative« (2019) überspitzt das Fotografieren, das so eng mit der Idee von Urlaub verkuppelt ist, zur endlosen und sinnentleerten, kitschigen korinthischen Säule vor dem Farbverlauf eines Abendhimmels aus dem Grafik­programm. Fotografieren als unreflektierte Reaktion auf Arbeits­losigkeit und Form der Aneignung der Welt (Susan Sontag, »On Photography«, 1977). Bei aller Sensibilität, die sich die Ausstellung für subtile Zwischentöne innerhalb der Vereinbarung eines Arbeitsauftrags und Schaffensdrangs (Stichwort: Berufung) mit der Idee der Selbst­genüg­samkeit des Lebens beibehält – das ist ein beißender Kommentar der zeitgenössischen Kultur: Office is not a place – it’s a feeling.

Sigrid Viir studierte Fotografie und Medien­kunst an der Estnischen Kunst­akademie und der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Ihre Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Die Ausstellung »False Vacationer«, kuratiert von Maarin Murky, war 2019 im EKKM in Tallinn zu sehen und ist es nun in kleinerem Umfang bis zum 23. Dezember bei Koenig2 by_robbygreif in Wien.

Unsere Heftrubrik »Golden Frame« ist jeweils einem Werk zeitgenössischer Kunst gewidmet. In The Gap 190 ist dies: »Destination Superlative« von Sigrid Viir.

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