Held Vinyl – Schock und Hoffnung

Was dem Konquistador Eldorado und Gold sind, sind dem Musikliebhaber der Plattenladen um die Ecke und Vinyl. "Last Shop Standing” ist eine filmische Hommage an diese, in den letzten Jahren wiederaufblühende Kultur.

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Regisseur Pip Piper erzählt in seinem Oral-History-Bilderbuch von fanatischen Musikliebhabern, einer Industrie, die sich erst langsam aus ihrer Schockstarre befreit und davon, wie weit sich diese beiden Welten in den vergangenen Jahrzehnten voneinander entfernten. "Last Shop Standing" bereist kleine Plattengeschäfte in ganz Großbritannien. Eine Bestandsaufnahme.

Der Film

In den Hauptrollen: der kleine Plattenladen, aus Idealismus und Musikliebe gegründet. Das gute Vinyl als edle Trägersubstanz des Epos. Die böse CD als industrielles Gift, das dem Helden beinahe das Leben kostet. Als Protagonisten dienen die idealistisch-kauzigen Typen hinter der Kassa und die Musiker, die ihre Jugend in Plattengeschäften verbrachten. Vinyl-Fürsprecher wie Johnny Marr, Paul Weller, Richard Hawley oder Norman Cook blättern in ihrer Jugend, lehnen an Plattenstapeln und kolorieren vergilbte Erinnerungen nach.

Der Held Vinyl

Wechselnde Moden, musikalische Trends und das soziale Make-Up der britischen High Street bieten das kulturelle Panorama vor dessen Hintergrund sich die Geschichte entfaltet. Und diese ist schnell erzählt: Held wird in widrigen Umständen geboren (karge Nachkriegszeit), meistert Prüfungen (emanzipiert sich als eigenständiges Geschäft; die ersten Platten wurden meist in Gemischtwaren-, oder Elektrogeschäften verkauft), reift heran (Beatboom der 1960er), zieht aus, um Abenteuer zu bestehen (neue Vertriebswege, Punk, DIY), erleidet Rückschläge (etwa der Kampf gegen Supermärkte und das scheinbar übermächtige Onlinemonster), steht wieder auf (Record Store Day) und kehrt schließlich reifer zurück (Vinyl-Renaissance und die große Hoffnung der Macher).

Die Textur des Films passt in den gängigen Retro-Chic. Der Film inszeniert die Shops als Hüter essentieller britischer Tugenden: Hartnäckigkeit, Durchhaltekraft, schwarzer Humor, der Kampf des Underdogs und eine Prise Schrulligkeit.

Die Fehler

Graham Jones, Autor des gleichnamigen Buches und einer der Macher des Films, kritisiert vor allem die Fehler der Industrie. Seiner Industrie. Jones arbeitet für eine Plattenfirma. Vinyl loszuwerden, um Platz für die CD zu schaffen, sei unklug gewesen. Damit habe alles begonnen. Plötzlich litt die Qualität der Platten, Vinyl wurde recycled, dünner und gebrechlicher: immer heller strahlten dagegen die Versprechungen der CD: Überlegener Klang, modernes und einfaches Hören und Haltbarkeit.

Und irgendwann kam plötzlich Napster. Eine von jahrzehntelanger Alleinherrschaft betörte Industrie, spürte zwar, dass da etwas in der Luft lag, begriff aber nicht, was sie da gerade in den Grundfesten erschütterte. „Plötzlich passte eine ganze Plattensammlung in ein Gerät, das elegant in eine Hand passte“, staunt ein PR-Mann im Film über die ersten MP3-Player. Eine völlig neue Welt; die Industrie versteinert wie der Stummfilmstar vor den neuen Tönen. Gelähmt.


Der Schock

Ein Kulturschock, der sich noch verstärkte, weil die Macher in der Musikindustrie längst keine Musikleute mehr waren. Anwälte und Controller diktierten das Geschehen und sahen in ihren Meetings plötzlich nur mehr Zahlen, die einbrachen und Kurven, die steil nach unten zeigten.

Die Shops büßten zur gleichen Zeit ihr wertvollstes Gut ein: die Beziehung zwischen Kunden und Inhabern. „Immer öfter läutete einfach nur das Telefon anstatt, dass die Leute wirklich in den Shop kamen.“ Die Musik löste sich von Tonträgern genauso wie sich die Kunden von ihren Shops lösten. Der soziale Magnetismus der Plattenläden versiegte. Sie drohten dem Schicksal von Münz-, oder Briefmarkenshops zu folgen. Je einfacher es wurde, Musik zu finden, desto isolierter wurde dieses Vergnügen. Je schneller die Verfügbarkeit, desto kälter die Freude daran. Statt des Kaffees im Shop gönnte man sich Download-Sessions, die das rasante Plus an virtueller Musik in ein Defizit an realer Auseinandersetzung mit ihr übersetzen.

Als schließlich auch Supermarktketten in Großbritannien begannen, die Preise für Musik ins Bodenlose zu drücken, konnten viele nicht mehr mit. Von den über 2200 unabhängigen Shops im Großbritannien der 1980er Jahre waren 2009 noch gerade einmal 269 übrig.

Die Zahlen

Heute macht Vinyl zwar nur 1 Prozent der globalen Musikeinkünften aus. Die Zuwachsraten aber sind beachtlich: alleine 2011 ein Plus von annähernd 30 Prozent auf 115 Millionen Dollar. Der amerikanische Markt etwa erreichte 2005 seinen Tiefpunkt, sechs Jahre später registriert man eine Steigerung von über 900 Prozent auf 66 Millionen Dollar.

In Österreich wurden 2011 über eine Millionen Euro durch den Verkauf von Schallplatten erwirtschaftet.

60.000 verkaufte Platten machten hierzulande „knapp 1 Prozent“ der Umsätze der Musikindustrie aus. Dabei wird das Second Hand Geschäft gar nicht erfasst. E-Bay etwa berichtet von über drei Millionen verkauften Platten jährlich – sechs Stück wechseln jede Minute ihre Besitzer.

Die Hoffnung

Die Macher von "Last Shop Standing" bauen darauf, dass Musikliebhaber wieder auf haptisch und akustisch nachhaltige Vollwertkost setzen; dem billigen Junkfood abschwören. Richard Hawley schwärmt von der „Zeremonie des Musikhörens“, die nur in Plattengeschäften möglich sei. Auch Jo Good, BBC 6 Music Host, blickt voller Verve nach vorne und skizziert, wie Plattengeschäfte wieder relevant werden: indem sie es ermöglichen, sowohl Musik neu zu entdecken als auch neue Musik zu entdecken.

Sie werden in jedem Fall ein Nischenmarkt bleiben. Doch wenn man bereit ist, für Genuss und Leidenschaft Geld auszugeben, dann können sie in Zukunft wieder zu einem „community hub“ werden: einem Ort, der einem – unausgesprochen – das Gefühl gibt, unter Gleichgesinnten zu sein. Der Menschen zusammenbringt, zum Austausch einlädt und dabei die Chance bietet, Neues zu entdecken.

"Last Shop Standing" ist bereits auf DVD erschienen.

www.lastshopstanding.com

Bild(er) © Blue Hippo Media
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