Intime Begegnungen in ephemeren Filmen – Katharina Müller über queere visuelle Geschichte und Kultur

Den Darstellungen queerer Lebensformen in Österreich widmet sich Katharina Müller mit ihrem Projekt »Visual History of LGBTIQ+ in Austria and Beyond«. Die Wissenschaftlerin erzählt im Interview, was diese Darstellungen ausmacht und warum sie für das Leben queerer Menschen so essenziell sind.

© Österreichisches Filmmuseum / Sabine Schwaighofer

Was ist für dich alles Teil einer queeren visuellen Geschichte?

Katharina Müller: Die Darstellungen queerer Personen sind oft Fremddarstellungen. Mich haben daher Bilder von queeren Menschen interessiert, die Selbstdokumentationen sind. Gerade in Österreich ist das spannend, da es hier bis 1996 eines der restriktivsten anti-queeren Gesetze gab – ein Werbe- und Vereinsverbot. Sprich: Bis dahin sah man im Kino, im TV und in sonstigen Medien offiziell kaum Darstellungen von Queerness, und wenn, dann waren diese diskriminierend bzw. haben Stereotype reproduziert. Bereits vor einigen Jahren habe ich mich auf die Suche nach anderen Bildern gemacht und bin im Filmmuseum auf die Filme des Tänzers und Schauspielers Franz Mulec gestoßen. Er drehte über 60 Filme und wollte alternative queere Bilder schaffen. In der Folge habe ich (trans-)national in verschiedenen Archiven gesucht und bei Bekannten nachgefragt – und mehrere Tausend Minuten Material entdeckt. Die Frage ist, wie man damit umgeht, denn queere Geschichte existiert immer in einer Sphäre von (Un-)Sichtbarkeit. Visualität hat viel mit Vorstellungskraft zu tun. Als Queerness sichtbar wurde, wurde sie zunächst vonseiten der Medizin, Psychiatrie und Polizei durchforstet und registriert. Dieser Blick ist ein pathologisierender, einer der Alterisierung. Ich suche Bilder mit einem queeren Point of View.

Der Fokus deiner Forschung liegt auf privaten Filmen und Homemovies.

Für mich sind das vielfach keine »privaten« Filme. Das Private ist politisch. Wir reden von Filmen aus einer Verbotszeit. Ich bezeichne diese Filme als ephemer; sie wurden nicht industriell hergestellt und stehen nicht mit künstlerischer Verwertung in Zusammenhang. Es sind total unterschiedliche Filme – von Homemovies, Reisefilmen bis hin zu aktivistischen Filmen oder Pornos ist alles dabei. Was diese Filme eint: Sie wurden nicht für eine breite Sichtbarkeit gemacht. Sie thematisieren intime Begegnungen und es spiegeln sich in ihnen oft die bestehende Gefahr der Sichtbarkeit und deren Risiken wider; etwa in Aufnahmen aus einem Fetischklub, wo nur von den Schultern abwärts gefilmt wurde, oder in der deutlich wahrnehmbaren Verlegenheit der Kamerafrau* bei einem Lesbenfest.

Aus welchem Zeitraum stammen die Filme?

Ich habe Filme und Videos zwischen 1900 und 2010 gesucht. Die Nullerjahre markieren unter anderem das Aufkommen von Internet und eine Neuverteilung von Raum und Bildern. Bei den Filmen stellt sich die Frage, für wen wann etwas überhaupt als queer lesbar wird und wie man mit dieser Lesbarkeit umgeht. Gerade erleben wir einen Moment des Backlash, daher muss man sich fragen, wie man mit den Filmen umgeht, wo Sichtbarkeit sinnvoll ist bzw. wo sie mit einem stark erhöhten Risiko von Verletzbarkeit einhergeht. Eine Herausforderung ist auch das Material selbst: Ein Teil der Filmrollen hat sich bereits zersetzt – manchmal zensiert sich das Material also selbst. Queerness teilt mit dem Ephemeren eine Geschichte des Verlusts.

Bei queerer (Re-)Präsentation gehe es darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, so Katharina Müller. (Foto: Eszter Kondor)

Queerness lässt sich auch als politische Praxis verstehen, die sich gängigen Narrativen widersetzt. Inwiefern zeigt sich das im Material?

Queerness hat für mich eine identitätszersetzende Kraft. Die Filme, die ich für meine Forschung sichte, sind oft Amateur*innenfilme. Von Leuten, die einfach mal mitgefilmt oder gezielt dokumentiert haben. Oft wissen wir gar nicht, wer diese Filme genau gemacht hat oder warum. Wir kennen vielleicht nur die Orte. Manchmal wurde die Kamera weitergereicht, etwa auf Demos. Die Frage ist, wie man diese Filme zu Objekten queerer Geschichte(n) machen kann, ohne wen »auszustellen« oder »vorzuführen«. Ein Beispiel: Es gibt eine bestimmte normative Erwartungshaltung, wenn man von privaten queeren Filmen spricht. Wir haben vielleicht das Bild von bunten, crazy Personen, die in verrückten Outfits tanzen, vor Augen. Die gibt’s freilich auch, aber eben nicht nur. Einmal bekam meine Kollegin einen Anruf, dass Filme gefunden wurden mit der Notiz, dass diese von einer schwulen Person stammen. Wir sichteten die Filme und merkten: Es waren ganz gewöhnliche Reisefilme. Urfad. Bilder aus dem Flugzeug und vom Grand Canyon – auch das ist, in seiner vollkommenen Unspektakularität, ein queerer Point of View.

Wie einfach ist der Zugang zu diesen Filmen?

Zugang zu queeren Archiven zu bekommen, hat viel mit Vertrauensbildung zu tun – mit Verantwortung. Wie kann man Zugang herstellen und zugleich einen missbräuchlichen Zugriff vermeiden? Bei meinem Projekt geht es um Videos, die reale Personen zeigen, die eventuell nicht einmal wussten, dass gefilmt wurde. Diese Menschen wollten nicht in einer Datenbank landen oder auf Social Media, das es noch nicht gab. Auf eine Datenbank werde ich verzichten, aber es muss Transparenz geben. Mir ist wichtig, für eine queere und trans Community einen Zugang herzustellen, aber eher im analogen Raum. Es wird auch eine digitale Plattform geben mit Spuren aus Filmen, deren Macher*innen es erlauben, oder vielleicht mit Filmen, die so zerschlissen sind, dass man keine Personen mehr erkennen kann. Die Entscheidung darüber ist aber eine kollektive. Das ist eine Frage von Care-Arbeit. Am Ende des Projekts wird es eine Liste von Archiven geben, wo bestimmte Filme zu finden sind. Wer dort Einsicht nehmen kann, das liegt in deren Verantwortung. Archivkulturen sind sehr unterschiedlich. Es geht mir darum, Begegnungen herzustellen und nicht Voyeurismus zu forcieren.

Welche Probleme ergeben sich hinsichtlich der Vermittlung?

Im Zusammenhang mit Filmen von Amateur*innen ist oft von »Ego-Dokumenten« die Rede. Den Begriff hinterfrage ich stark. Vom Ego-Problem mal abgesehen: Dokumente sind immer eine Fixierung – das ist im Zusammenhang mit einer queeren Geschichte problematisch. In der Vermittlung ziele ich darauf ab, dass diese Filme historische Räume eröffnen. In der Begegnung mit diesen Filmen begegnest du Personen – und das auf eine intime Art und Weise. Daher ist es wichtig, je nach Film zu entscheiden, wie man damit umgeht. Ein Film von einer Lesbenparty, der Nacktheit aufweist, verlangt nach einem anderen Ansatz als einer, der im Zuge einer queeren Kampagne entstanden ist. Letztlich ist auch das eine Entscheidung, die gemeinsam mit den Archiven zu treffen ist. Danach kann alles passieren: von der Ausstellung der Filme bis hin zur Geheimhaltung. Etwas geheim halten heißt ja nicht, dass man keine Geschichte dazu erzählen kann.

Selbstdokumentation ist ein wichtiger Begriff in deiner Arbeit. »Darf« demnach queere Geschichte nur von queeren Personen geschrieben werden oder siehst du Queerness als etwas, das man per se in die Gesellschaft tragen kann?

Diesen Begriff der Selbstdokumentation habe ich klar in Abgrenzung zur Fremddarstellung verwendet. Queerness ist idealerweise selbstdefiniert. Die Frage ist: Wo wird Alterisierung hergestellt? Wie kann man diese patriarchalen Blickstrukturen infrage stellen? Es gibt ja diese Idee der repräsentationalen Gerechtigkeit, die aber tendenziell dazu führt, dass sie einen cis patriarchalen Blick verstärkt. Ich finde Allys ganz wichtig. Du musst natürlich nicht queer sein, um queere Geschichte rezipieren zu »dürfen«. Es geht eher darum, wie man die Bekräftigung dieses cis hetero patriarchalen Blickes auf queere Personen vermeidet.

Da die Filme zumeist nicht für eine breite Sichtbarkeit gemacht wurden, ist Katharina Müller ein sensibler Umgang damit wichtig. (Foto: Österreichisches Filmmuseum / Sabine Schwaighofer)

Welche Beispiele für queere visuelle Kultur fallen dir ein?

Da muss ich lokal an ganz viele Namen denken, etwa an Katrina Daschner, Sabine Schwaighofer, Rafal Morusiewicz, Lukas Gritzner, alle Dragqueens der Erde, Elena Wolff, Katharina Aigner, Laura Nitsch, Mario Kiesenhofer, die ganze Filmfestivalszene vom leider nicht mehr existierenden Identities über Queertactics oder das Transition International Queer & Minorities Film Festival bis hin zum Porn Film Festival. Aber auch im Bereich Theater und Performance passiert viel: die fantastische Denice Bourbon mit PCCC* oder die »Sodom Vienna Revue« und vieles mehr.

Inwiefern ist queere visuelle Kultur im Mainstream angekommen? Hat dies Vor-, aber auch Nachteile?

Formen von Sichtbarkeit und Subversion werden immer wieder vom Mainstream gekapert, von einem kapitalistischen System, das zur Einverleibung aller Dissident*innen neigt. Für mich ist »queer« das, was sich dem entzieht. Es taucht auf, wird spürbar und verschwindet dann wieder. Queerness lässt sich nicht vereinnahmen, sondern bahnt sich stets einen Weg. Auch im Mainstream – je nachdem, wer ihn liest.

Welche Auswirkungen hat queere visuelle Kultur auf das Leben queerer Menschen?

Queere visuelle Kultur ist wichtig, denn es geht um Möglichkeitsräume. Wer in Österreich etwa in den 60ern am Land aufwuchs, fand seine gefühlte »Andersartigkeit« medial und auch sonst kaum positiv gespiegelt. Dir fehlten Vorbilder und Möglichkeitsräume. Das war für viele Menschen eine tiefe existenzielle Verunsicherung. Du hast keine Wörter und Bilder für deine Identität oder dein Begehren. Queere visuelle Kultur schafft diese Räume.

Das Projekt »Visual History of LGBTIQ+ in Austria and Beyond« ist im Österreichischen Filmmuseum in Wien und an der Kunstuniversität Linz angesiedelt. Weitere Informationen dazu gibt es unter »Forschungsprojekte« auf www.filmmuseum.at.

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