Über das Aufeinandertreffen von Einsamkeiten – Niklas Pollmann im Interview zu »Hurenkind & Schusterjunge«

»Hurenkind & Schusterjunge« erzählt von Einsamkeit, bietet aber auch Trost. Die Hauptdarstellerin kam eine Woche zu spät zum Casting, weil sie meinte, sie müsse erst weinen lernen. Die Rolle bekam sie dann zum Glück trotzdem und der Kurzfilm lief 2021 bis 2023 auf etlichen Festivals. Nun ist er in der Cinema Next Series kostenfrei als Stream verfügbar. Im Interview erzählt uns der Regisseur Niklas Pollmann von idiotischen und schwachen Männerfiguren, Unfällen der Geschichte sowie einsamen Zeilen.

© Lemonade Films — Einsamkeit mit Ausblick in Niklas Pollmanns »Hurenkind & Schusterjunge«

»Hurenkind & Schusterjunge« ist die nächste Veröffentlichung in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.

In deinen eigenen Worten: Worum geht es in »Hurenkind & Schusterjunge«?

Niklas Pollman: Ich würde sagen, um Einsamkeit. Das Schusterjungenprinzip der Einsamkeit ist das Dazugehören-Wollen, das Hurenkindprinzip der Einsamkeit ist das Nicht-in-diese-Welt-Gehören. Das sind natürlich zwei sich diametral gegenüberstehende Einsamkeiten, aber ich glaube, viele Menschen, einschließlich ich selbst, kennen beide. Durch ein zufälliges Objekt, ein Gedicht, sind beide Einsamkeiten miteinander verbunden, aber würden sie einander begegnen, würden sie sich nicht helfen können. Der Möglichkeitsraum der Sprache – das ist vielleicht ein weiteres Thema! –, in denen die zwei Sphären einander unwillkürlich begegnen, bietet beiden jedoch einen gewissen Trost.

Auf Englisch heißt der Film »Widow & Orphan«. Wie kam es zu dieser doch recht anderen Übersetzung? Und überhaupt zu dem Titel?

Als ich das Gedicht schrieb, von dem klar war, es würde von einer einsamen Person geschrieben und von einer anderen einsamen Person gefunden werden, suchte ich nach einer passenden Metapher. Da stieß ich auf die Begriffe Hurenkind und Schusterjunge, die typografische Stilfehler kennzeichnen. Ein Hurenkind ist eine »einsame« erste Zeile auf einer Seite, die aber gleichzeitig die letzte Zeile eines Absatzes von der vorherigen Seite ist. Der Schusterjunge ist eine erste Zeile eines neuen Absatzes, die aber die letzte Zeile auf einer Seite ist, also ebenso einsam dasteht. Das war so perfekt, dass es nicht nur ins Gedicht kam, sondern auch zum Titel des Films wurde. »Widow & Orphan« sind einfach die äquivalenten englischen Begriffe; allerdings habe ich sie vertauscht, weil das besser passt. Eigentlich ist ein Schusterjunge ein »Orphan« und ein Hurenkind eine »Widow«, ich wollte aber ihn, der seine Ex-Freundin »verloren« hat, zur Witwe machen und sie, die von ihren Eltern verraten wird, zum Waisen.

Du bist auch Drehbuchautor des Films. Was hat dich zu dieser Geschichte inspiriert?

Ich denke Geschichten oft sehr architektonisch, kann man sagen. Ich saß mal auf einer öffentlichen Toilette, studierte die Schriften an der Klowand und dachte, man müsste einen Film darüber machen, dass jemand in der Öffentlichkeit etwas findet, das eine andere Person da hinterlassen hat. Man müsste beide Geschichten erzählen, die Entstehungs- und die Findungsgeschichte dieses Gegenstandes und diese beiden Geschichten dürften nichts miteinander zu tun haben, aber sollten motivisch miteinander verknüpft sein. Mir hat die erzählerische Architektonik dieser Idee gefallen. Ungefähr so kam ich dazu.

Auch das Schauspielen ist dir nicht fremd. Zum Beispiel bist du im Kurzfilm »Gschichtl« von Franz Quitt in einer sehr persönlichen Rolle zu sehen. In deinem neuen Kurzfilm »Between the Lines« spielst du sogar selbst die Hauptrolle. Wie ist es dazu gekommen? Und wie beeinflusst das deinen Prozess mit den Schauspieler*innen in deinen Filmen?

Meine Schauspielerei ist eher ein Unfall der Geschichte. Bei »Gschichtl« hatte ich bei Franz Castingassistenz gemacht und den Eindruck, er bräuchte für seine Rolle eigentlich einen Typen wie mich, weil die Männer beim Casting alles so Schönlinge waren. Bei »Between the Lines« wollte ich unbedingt ganz klassisch Regie führen, mit zwei Schauspieler*innen, aber ich habe Charlotte Kaiser beim Casting angespielt und das hat super funktioniert. Außerdem hatte ich Schiss, dass der Film mit seiner zwanzigminütigen Plansequenz nicht funktioniert, wenn ich zwischen den Takes zwei Schauspieler*innen Anweisungen geben muss. Ich bin beim Schauspiel aber ein bisschen hin- und hergerissen: Einerseits ist es schön und wichtig, dass es solche idiotischen und schwachen Männerfiguren gibt, wie ich sie verkörpert habe, andererseits verstehe ich auch die Eitelkeit der Schauspieler, dass man nur super attraktive Rollen spielen will, denn sich selbst auf dem Screen zu sehen, ist nicht so einfach zu ertragen.

Die Hauptdarstellerin Nava Hemyari flieht vor der Einsamkeit in den Straßen Londons …
… und ihr Gegenpart, gespielt von Levin Henning (oder ist es hier doch der Regisseur selbst?), sucht die Einsamkeit über der Stadt. Filmstills aus »Hurenkind & Schusterjunge« © Lemonade Films

Wie hast du zu den Protagonisten in »Hurenkind & Schusterjunge« gefunden?

Levin Henning hat in »Das weiße Band« von Michael Haneke ein kleines, rothaariges Kind gespielt; er sah lustigerweise als Kind ein bisschen so aus wie ich. Das war aber natürlich nicht der Grund, jedenfalls kein bewusster. Levin hatte einfach eine coole Weise zu sprechen, die gleichzeitig aber auch ein bisschen schwermütig klang. Bei Nava Hemyari war es ganz anders. Sie ist ja eigentlich gar keine Schauspielerin. Ich kannte sie über Ecken und fand ihre »Aura« sehr spannend. Irgendwas hatte sie, was ich nicht ergründen konnte – und bis heute nicht ergründen kann. Ich hab sie zum Casting eingeladen. Sie kam eine Woche zu spät, weil sie meinte, sie müsse erst weinen lernen. Dann kam sie zum Casting und hat die Szene komplett abgerissen. So sehr, dass ich die Rolle ändern musste, die ursprünglich eine Auslandsdeutsche sein sollte.

Du hast für den Film mit zwei verschiedenen, getrennt agierenden Kameraleuten und Editor*innen mit eigenen Bildsprachen gearbeitet. Kannst du uns etwas zu dem Gedanken dahinter und zum Prozess erzählen?

Ich wollte damit zwei verschiedene Wahrnehmungssphären erzählen und audiovisuell erfahrbar machen. Der Prozess war ziemlich schön, weil sich die Kameraleute – Simone Hart und Christian Neuberger – auch gegenseitig assistiert haben. Bei den Editor*innen war es dann wiederum ganz anders. Durch Corona hat das alles noch abgeschotteter von einander stattgefunden, als das beim Schneiden wohl ohnehin schon der Fall gewesen wäre. Da gab es dann also quasi ein echt getrenntes Entstehen der »Strophen« und Lea Sorgo und Beni Pieber haben fast nichts darüber gewusst, was der jeweils andere da gerade schneidet.

Dieses Jahr warst du gemeinsam mit deinem Co-Autor, dem Linzer Schauspieler Emre Çakir, mit »Rückkehr nach Riesa« für den Preis für das beste unverfilmte Drehbuch beim deutschen Drehbuchpreis nominiert. Dürfen wir heuer auf eine Verfilmung hoffen?

Wenn alles gut durch die Förderinstanzen geht, wird der Film unter der Regie der LGBTQIA*-Legende Marcel Gisler entstehen, ja. Wir sind alle sehr aufgeregt.

Und dürfen wir auch auf weitere Projekte von dir hoffen? Als Drehbuchautor, Schauspieler, Regisseur oder alles gemeinsam?

Das Schreiben ist meine Hauptrolle. Schauspielen: naja, wenn mir jemand eine coole Rolle vorschlägt, vielleicht; oder einen Verdächtigen in einem »Tatort« würde ich gerne mal spielen, damit meine Oma mich im Fernsehen sieht und stolz ist. Regie: Da wird auch was kommen. Aber meine Rechnungen werden mit Drehbüchern bezahlt.

Niklas Pollmann, geboren 1993, studiert Drehbuch bei Götz Spielmann an der Wiener Filmakademie. »Hurenkind & Schusterjunge« ist sein Regiedebüt. Sein aktueller Kurzspielfilm »Between the Lines« war 2025 bei der Diagonale zu sehen. Aus der Filmkritik und Medienwissenschaft kommend, arbeitet er an der Schnittstelle zwischen filmischer Theorie und Praxis.

Eine Interviewreihe in Kooperation mit Cinema Next – Junger Film aus Österreich.

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