Filmpoesie im Detail: Lynne Ramsays »A Beautiful Day« knüpft an frühere Werke an

Zwei ihrer vier Kurzfilme wurden bei den prestigeträchtigen Festivals in Cannes gezeigt, ihre vier Spielfilme sowieso. The Gap präsentiert die Premiere von Lynne Ramsays neuem Thriller »A Beautiful Day« in Wien. Ein guter Anlass, ihr bisheriges Schaffen noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

© Alison Cohen Rosa / Amazon Studios

Ein in Flammen aufgehendes Porträtfoto eines Mädchens, kleine funkelnde Partikel in der Luft, ein Plastiksackerl, das sich beim Einatmen eng an ein Gesicht anlegt und sich beim Ausatmen wölbt; Lynne Ramsay ist gut darin, mit nur wenigen Einstellungen beim Publikum Verwirrung zu stiften und gleichzeitig eine unverwechselbare Atmosphäre zu schaffen. Die beschriebene Szene stammt aus »A Beautiful Day« (Originaltitel: »You Were Never Really Here«), ihrem neuesten Film, der morgen in Wien Premiere feiert.

Joaquin Phoenix verkörpert Joe, einen Hitman, dessen Arbeitsethos recht einfach erscheint. Sein Auftrag ist es, verschwundene Kinder und Teenager aus den Fängen von Menschenhändlern zu befreien. Wenn das härtere Maßnahmen erfordert, schreckt er davor nicht zurück. Bei seinem aktuellen Auftrag – er soll die Tochter eines Senators aus einem Kinderprostitutionsring befreien – wird er in ein Netzwerk aus Kriminalität und Korruption verstrickt, das nicht nur sein eigenes Leben in Gefahr bringt, sondern auch das seiner engsten Vertrauten. Der Hitman nicht nur als Hitman, sondern als Mensch mit psychologischer Tiefe: An Posttraumatischer Belastungsstörung leidend, versteckt Joe, dass er getrieben ist von Dämonen der Vergangenheit.

Ein Protagonist, massig und in seiner Statur eindrucksvoll wie Joaquin Phoenix – das ist neu für Lynne Ramsay. Die thematische Auseinandersetzung mit Traumaverarbeitung hingegen ist es nicht.

Aufwachsen in Glasgow

Lynne Ramsay ist gebürtige Schottin, sie kommt aus Glasgow. Das wird auch in ihren frühen Filmen ersichtlich, für die sie nicht nur ihre Heimat als Setting wählte; denjenigen, die Filme in Originalsprache ansehen, dürfte vor allem die Tonspur ohne Untertitel vor Probleme stellen: Hier wird schottischer Dialekt der Arbeiterklasse gesprochen. Und auch abgesehen vom prekären Milieu wird das Heranwachsen am Stadtrand, das Ramsay in ihrem Frühwerk zum Leitthema macht, nur bedingt als idyllisch gezeichnet. In Ramsays erstem Kurzfilm »Small Deaths« wird die Kindheit eines Mädchens in flüchtigen Episoden erzählt. Dem ausgelassenen Spielen auf einer Kuhweide wird das Auffinden einer verstorbenen Kuh, ein erster Berührungspunkt mit dem Tod, entgegengesetzt. Gewalt und Vergänglichkeit als Lebensbegleiter, die auch für ihre jungen ProtagonistInnen bereits eine Rolle spielen – es ist eine Thematik, die sich durch ihren filmischen Katalog ziehen wird.

Sehnsucht nach Freiheit

In ihrem ersten Langspielfilm »Ratcatcher« ist es ein Bub, der beim Spielen in einem See ertrinkt. Der Protagonist James, etwa im selben Alter, der im Anblick des nicht mehr auftauchenden Freundes die Flucht ergreift, arbeitet sich im Film nicht nur durch Schuldgefühle, sondern durch ein allgemeines Bewusstwerden, was geschehen ist. Lynne Ramsay ist nicht nur Regisseurin mit eigener Handschrift, sie schreibt auch die Drehbücher ihrer Filme selbst, die sich durch sehr minimalistische Dialoge auszeichnen und der Bildebene damit zusätzliches Gewicht verleihen. Mit Nachdruck wird in »Ratcatcher« der Wunsch nach Flucht inszeniert. Flucht vor dem Erwachsenwerden, Flucht vor den eigenen Problemen, Flucht vor Umbrüchen. Für diese Sehnsüchte findet Ramsay eine bildliche Entsprechung, als sie ihren Protagonisten bei einem Streifzug durch ein unfertiges Haus zeigt. Die Fenster sind noch nicht eingesetzt, sodass es James möglich ist, angesichts eines wunderschön vom Sonnenuntergang eingefärbten Kornfeldes, durch den Fensterrahmen zu klettern und Richtung Horizont zu laufen. Die Art und Weise, wie die Szene ausgeleuchtet ist, die Bewegung der Kamera: Alles hat ein bisschen den Anschein, als handle es sich bei dem, was James erblickt um ein Gemälde, in das er hineinklettern kann – eine Flucht in eine verborgene Welt.

»Every Frame A Painting«

Bilder, die eine eigenständige Geschichte zu erzählen scheinen – das kommt nicht von ungefähr. Lynne Ramsay ist gelernte Fotografin und Kamerafrau. In ihrem Werk liegt in erster Linie eine Detailverliebtheit. Die Bilder scheinen durchkomponiert und Szenerien werden damit seziert, kleine Details in Großaufnahmen zu zeigen. In diesem besonderen Blick für das eigentlich eher Unscheinbare liegt eine gewisse »Poesie« – ein Wort, das häufig in der Besprechung von Ramsays Filmstil auftaucht. In einem Videoessay des Youtube-Kanals »Every Frame A Painting« wird analysiert, inwiefern sich Filmhandlung und einzelne Großaufnahmen spiegeln, wie diese Bilder entscheidend für das Verstehen der Filmhandlung sind und wie Ramsay mit Wiederholungen und Nahaufnahmen Bilder zum Sprechen bringt.

Einem größeren Publikum ist Lynne Ramsay mit ihrer Romanadaption »We Need To Talk About Kevin« bekanntgeworden. Tilda Swinton spielt hier die Mutter eines jugendlichen Amokläufers, die wiederkehrend mit der Tat konfrontiert wird, weil sie immer wieder auf Familienangehörige der Opfer ihres Sohnes trifft. In Rückblicken wird das Verhältnis zu ihrem Sohn von Anfang an als schwierig skizziert. Die Beschäftigung mit einer Gewalttat verschiebt sich zu einer psychologischen Auseinandersetzung mit der Mutter-Kind-Beziehung. Lynne Ramsay spielt nach der Vorlage des gleichnamigen Romans von Lionel Shriver ein »Was wäre wenn?«-Tabu durch. Was wäre, wenn eine Mutter das eigene Kind nicht lieben würde, das Kind dies spüren würde und sich mit Hass gegen die eigene Mutter wenden würde?

Darstellung von Gewalt

Der Amoklauf selbst bleibt schlussendlich ohne Abbildung, denn die Geschichte wird aus der Perspektive von Eva, der Mutter erzählt, die bei der Tat ihres Sohnes nicht anwesend war. Sie kann sich lediglich vorstellen, wie die Tat stattgefunden hat, was in gewisser Weise gruseliger erscheint, als eine explizite Darstellung. Auch in »A Beautiful Day« geht Lynne Ramsay in Teils überraschender Weise mit dem Zeigen und Nicht-Zeigen von Gewalt um und durchbricht damit in mancher Hinsicht Genre-Erwartungen an das Thrillerkino.

Lynne Ramsay dreht besondere Filme. Sie erzählt spannende Geschichten in Bildern mit Tiefenwirkung und charakterisiert Figuren, die lange im Kopf bleiben. Mit dem Kinobesuch von »A Beautiful Day« mag man womöglich keinen »schönen« Tag haben – dafür ist die Materie einfach zu düster – ein eindrückliches Filmerlebnis bleibt aber allemal.

»A Beautiful Day« feiert morgen – präsentiert von The Gap – im Village Cinema Wien Mitte Premiere. Ab 27. April 2018 läuft der Film regulär in den österreichischen Kinos.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...