„Pornografisierung? Ja, wo denn?“

Seit den späten Sechzigern gilt Oswalt Kolle den Deutschen als „Aufklärer der Nation“. Wie seine Familie vor Kurzem bekanntgab, ist der Journalist und Filmemacher am 24. September, wenige Tage vor seinem 82. Geburtstag, verstorben. Aus dem Archiv: ein Interview mit Kolle anlässlich des Erscheinens seiner Autobiografie im September 2008.

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Herr Kolle, kennen Sie YouPorn?

Ich habe schon davon gehört …

Es heißt, dass die sexuelle Aufklärung vieler Jugendlicher heutzutage über solche Websites erfolgt.

Ja, das ist ganz schlimm. Aber wir können das Netz ja nicht zensieren, wir können da maximal gegensteuern. Die Amerikaner haben schon vor Jahren versucht, das zu blockieren, aber Jugendliche haben ihre Tricks, um so etwas zu umgehen.

Wie es ist denn ihrer Meinung nach im deutschsprachigen Raum um die Aufklärung bestellt?

Was Österreich betrifft, kann ich dazu nichts sagen. Ich weiß nur, dass in den Schulen generell wenig gemacht wird. Und gerade in den Medien gibt es – außer in der Bravo – überhaupt keine Aufklärung mehr. Die sagen: „Ach, das wissen wir doch jetzt alles, das haben wir doch alles schon gehabt.“ Oder sie fürchten sich nach wie vor, in einen falschen Geruch zu kommen. Man überlässt das ganz der Porno-Industrie – und das macht mir Sorgen.

Wir haben vor Kurzem eine Online-Umfrage durchgeführt, bei der sich herausgestellt hat, dass wahnsinnig viele, nicht nur, aber hauptsächlich Jugendliche, täglich im Internet Pornos gucken. Das hat mich schon erschreckt. Wir haben Männer gefragt: „Glaubst du, dass deine Partnerin deinen Penis mit denen von Pornostars vergleicht?“ Und je häufiger einer Pornos guckt, desto mehr denkt er, dass das so ist. Bei Frauen ist es dasselbe. Daher kommt es auch, dass wir heute von 18-Jährigen hören, die sich zum Geburtstag von ihren Eltern eine Schamlippen-Operation wünschen. Ich finde das grotesk. Da müsste Aufklärung hingehen, um den Kindern, den Jugendlichen deutlich zu machen, dass Pornos Märchen sind. Dass sie nichts mit der täglichen Wirklichkeit zu tun haben.

Hat die angesprochene Umfrage noch weitere Ergebnisse gebracht, die Sie überrascht haben?

Naja, es gibt bestimmte Dinge, die ich toll finde. Die überwältigende Mehrheit – bei Frauen wie Männern – sagt zum Beispiel: „Ich kann mit meinem Partner offen über Sexualität sprechen und meine Wünsche anmelden.“ Wenn das stimmt, dann hätte ich mein Ziel erreicht. Ich habe ja immer gesagt: „Redet! Redet! Lasst euch nicht mehr den Mund verbieten und sprecht mit einander.“ Aber gerade bei der Sexualität wird am meisten gelogen – die Leute antworten vielfach so, wie sie es für wünschenswert halten.

Sind Sexualität und Pornographie ihrer Meinung nach zu präsent?

Im Internet?

Generell.

Nein, überhaupt nicht. Pornografisierung der Gesellschaft? Ja, wo denn? Wissen sie, was mir neulich ein Journalist gesagt hat? „Naja, gucken sie mal, ein Magnum-Eisriegel!“ Ich sage: „Entschuldigen sie mal, ich bin ja Fachmann. Ich sehe da eine Frau, die lecker ein Magnum-Eis isst. Was geht denn in ihrem Kopf vor, dass sie da einen Penis sehen? Ich sehe ein Magnum-Eis.“ Da werde ich ganz krank von so was.

In den Medien spielt Sexualität praktisch überhaupt keine Rolle. Immer wenn ich das Fernsehen anmache – ob es das österreichische ist oder das deutsche, das kommerzielle oder das öffentlich-rechtliche –, ich sehe unentwegt nur Kochsendungen. Unentwegt sitzen Leute und fressen, fressen, fressen. Wenn das lustlos machen würde, dann müssten alle Deutschen schon längst verhungert sein. Naja.

Es gibt auch das Gerücht, dass die große Lustlosigkeit ausgebrochen sein soll. Das haben so Sexualwissenschaftler von 20 oder 30 Jahren aufgebracht, der Herr Bornemann hat damit angefangen … Ich hab ihm damals schon gesagt: „Du irrst dich! Du stellst fest, dass viele Briefe kommen, in denen Leute darüber klagen, die es früher einfach nicht gewagt haben über Lustlosigkeit zu klagen.“ Und die Umfrage sagt auch ganz deutlich, dass die Häufigkeit enorm zugenommen hat. Wenn man das mit Untersuchungen von vor 20 Jahren vergleicht, gibt es jetzt 20 bis 30 Prozent mehr Sexualität in Partnerschaften.

Ihre Filme haben ein Millionenpublikum erreicht, denken Sie, dass die Menschen in erster Linie ins Kino gegangen sind, weil sie etwas über ihre Sexualität lernen wollten oder eher aus voyeuristischen Motiven?

Wissen Sie, die beste Kritik, die ich je gekriegt habe, kam von der Times in London. Der Kritiker hat geschrieben: „Viele werden aus falschen Motiven in diese Filme gehen, aber sie kommen alle mit den richtigen raus.“ Es interessiert mich überhaupt kein Gramm, ob die Leute reingehen, um andere beim Ficken zu sehen oder ob sie Informationen haben wollen.

Mit den Filmen standen Sie auch zwischen den Welten. Zum einen war da die 68er-Generation, die ihnen eine pseudoliberale Haltung attestiert hat, und …

Ach, die 68er. Die haben sich da was vorgemacht, nicht wahr? Die haben geglaubt, dass sie mit so dummen und frauenfeindlichen Sprüchen wie „Wer zweimal mit der selben pennt, gehört schon zum Establishment“ die Welt verändern könnten. Politisch haben sie sehr viel verändert, aber sexuell überhaupt nichts. Die Bürger haben gesagt: „Das wollen wir nicht, wir wollen nicht alle durcheinander vögeln.“ Und die haben mir vorgeworfen, ich würde die Ehe oder die Zweisamkeit, die Partnerschaft wieder aus dem Grab holen. Ich hab damals schon gesagt: „Ihr seid nicht richtig im Kopf. Die Leute wollen Zweisamkeit. Die wollen auch Ehe. Die wollen Standesamt, einen Stempel – weil das eine andere Art von Verantwortlichkeit ist.“

Die überwiegende Mehrheit will laut unserer Umfrage eine lebenslange treue Partnerschaft haben – gerade auch bei den jungen Leuten. Das ist ein Ideal, das absolut stärker ist als je zuvor. Obwohl die Leute überall um sich herum Singles sehen, Scheidungen und Trennungen – jeder für sich wünscht sich eine Partnerschaft, die 50 Jahre oder länger dauert. Damit haben die damals nicht gerechnet. Und wie geh ich damit um? Wie kann ich meine Fantasie einsetzen, um eine lebenslange Partnerschaft auch lebendig zu erhalten? Das wollen die Leute wissen.

Auf der anderen Seite hat es aus der konservativen Ecke die Kritik gegeben, dass sie die Ehe zersetzen wollen.

Ach, naja, das ist doch abstrus. (lacht) Zersetzen? Die Katholiken haben Ehen zersetzt. Weil sie einen Druck ausgeübt haben, weil sie antisexuell waren, weil sie die Leute zu Lustlosigkeit gezwungen haben. Auch in der Ehe. Die haben Ehen kaputt gemacht, das ist eine Organisation, die Ehen zerstört. Ich hab immer gesagt: „Probiert zusammenzubleiben!“ Ich hab auch einen Film gemacht namens „Zum Beispiel: Ehebruch“, der hat ausschließlich gesagt: „Wenn man eine gute Partnerschaft hat, trennt man sich doch nicht gleich, wenn der andere fremdgeht.“ Das war meine Botschaft und das bleibt sie.

Sie haben ja auch propagiert, dass es neben einer sozialen Treue durchaus eine sexuelle Untreue …

Nein, nein! Ich hab überhaupt noch nie irgendwas propagiert, überhaupt nichts. Ich bin für Freiheit eingetreten oder dafür, dass Menschen das miteinander aushandeln, was sie wollen. Ich habe das mit meiner Frau 50 Jahre lang so gehandhabt, das war unsere Geschichte. Ich hab immer davor gewarnt, dass irgendjemand das nachmacht, wenn er nicht mental in der Lage ist, Eifersüchteleien zu unterdrücken. Ganz im Gegenteil: Ich bin absoluter Gegner davon, dass die Leute da irgendwelche Experimente machen, nur weil ich offen über meine Geschichte gesprochen habe.

Wie darf man sich das denn vorstellen, haben sie – als der Sexexperte Deutschlands – auch automatisch ein erfülltes Sexualleben?

Ich? Ja! Ich habe nach dem Tod meiner Frau eine neue große Liebe gefunden – da war ich 74 und sie war 62. Nach sechs, fast sieben gemeinsamen Jahren fühlen wir uns immer noch wie zwei Teenager. Das ist eine große Liebesgeschichte, die sehr erotisch ist und erfüllt von Sexualität.

Mit welchen Mitteln kann man denn ihrer Meinung nach Jugendlichen heutzutage Aufklärung näherbringen?

Das kann ich nicht sagen. Ich bin inzwischen 80 und ich lass das mal junge Leute machen. Man muss sich natürlich darum kümmern, eine Sprache dafür finden, die die Jugendlichen verstehen, und auf die Freiheit eingehen, die sie haben wollen. Ich erinnere etwa an Österreich und das Medienpaket „Sexualität“. Da durfte nicht einmal über Lecken und Blasen gesprochen werden. Und zwar nicht einmal in der Wissenschaftssprache – orale Sexualität durfte da nicht erwähnt werden. Und das Wort „Homosexualität“ musste zuletzt noch rausgestrichen werden. Über Homos ist da überhaupt nicht gesprochen worden. Die katholische Kirche hat alles verhindert, was irgendwo ein bisschen nach Freiheit roch. Wie sollen sie denn Jugendliche aufklären, wenn sie ihre Sprache nicht sprechen dürfen?

Dasselbe haben wir in Deutschland auch gehabt – bei „Let’s Talk about Sex“, einem Aufklärungsheft für Jugendliche. Der damalige Ministerpräsident, Scharping hieß der, hatte eine direkte rote Leitung zum Bischof von Mainz oder so was. Und der Bischof hat angerufen und hat gesagt: „Rudolf, vergiss das!“ Und Rudolf hat es verboten. Ich sage immer, wenn er das in Holland gemacht hätte, wäre er nicht mehr lange Ministerpräsident gewesen. Am nächsten Tag schon nicht mehr. Ich meine, wo sind wir denn? Was geschieht denn da? Dieser Einfluss der Kirche ist doch unmöglich.

Sind Sie aus diesem Grund nach Amsterdam gezogen?

Ja. Neulich hat sich die Kirche mal beschwert, dass sie hier zu wenig Einfluss hätte. Da hat der Ministerpräsident gesagt: „Ach, der Bischoff, der kann gerne zu mir auf einen Kaffee kommen.“ (lacht) Wir haben hier eine Trennung von Staat und Kirche. Das habt ihr in Österreich und Deutschland theoretisch auch. Aber wenn’s hart auf hart geht, dann kommen die Kirchenfürsten und setzen ihren Willen durch und das finde ich faszinierend – gerade in der Frage Sexualität. Da sind wir immer noch im Mittelalter.

Kennen Sie den Film „Wolke 9“ von Andreas Dresen?

Natürlich hab ich viel davon gehört, ich hab ihn aber noch nicht gesehen. Es ist sehr erfreulich, dass das Thema Alterssexualität in einem Spielfilm behandelt wird, weil das ja ein doppeltes Tabu ist. Die Älteren schämen sich häufig dafür: „Ach, in meinem Alter sollte ich doch an andere Dinge denken …“ Und die Jungen – dass Opa und Oma sich im Bett herumwälzen und stöhnen, das finden die schrecklich. Opa und Oma sollen auf einer Parkbank sitzen, möglichst auf dem Friedhof und sich an der Hand halten.

Neulich hat mich ein junger Mann bei einer Veranstaltung gefragt: „Warum braucht denn ein älterer Mann noch so eine Pille für eine Erektion, der hat doch schon genug Schönes erlebt?“ Und ich: „Auf die Frage könnte Ihnen wahrscheinlich Ihr Großvater am besten antworten – wenn sie heute Abend zu ihm hingehen, ihm die Brille von der Nase reißen, sie vor seinen Augen zertrampeln und sagen: ‚Du hast genug Schönes gesehen, Alter.‘ Dann kriegen sie wahrscheinlich links und rechts eine runtergehauen.“ Da sagt er: „Ich hab das nicht so gemeint.“ Und ich: „Sie haben es aber so gesagt. Und sie haben zufällig mich gemeint, ja. Ich bin einer dieser alten Böcke, die sie gemeint haben. Und das akzeptiere ich nicht.“

Ist Sexualität im Alter auch beruflich eines ihrer aktuellen Beschäftigungsgebiete?

Sicher, ich mache Vorträge. Ich war gerade vorgestern in Mainz, da hab ich mit Doktor Günter Gerhardt, das ist der ZDF-Arzt, vor 400 Leuten eine Speech über Alterssexualität gehalten. Ich kann nur immer wieder sagen, wie ich die Gesellschaft erlebe – als außerordentlich altenfeindlich. Wir haben eine völlig vom Jugendwahn besessene Gesellschaft. Wenn du mit 45 deine Stelle verlierst, kriegst du keine neue, die Renten werden gekürzt und in den Krankenhäusern …

Ich erzähl ihnen eine Geschichte: Wir hatten hier in Holland eine Werbespot von der sozialistischen Partei. Die zeigt eine ganz alte Frau, die sich langsam vor der Kamera auszieht und dabei sagt: „Ich hab beinahe jeden Tag einen anderen Altenpfleger, Männer und Frauen, die mich nackt sehen und mich waschen. Ich bin erzogen worden, dass ich meine Nacktheit nicht zeigen darf.“ Und dann, während sie den Slip auszieht und wirklich nackt dasteht – eine Greisin –, sagt sie: „Da kann ich mich ja genau so gut vor der ganzen Nation ausziehen.“

Toller Clip! Das war natürlich ein knallharter Aufruf: „Gebt mehr Geld für die Alten aus. Das ist notwendig.“ Okay, das war das Thema Alte. Sie kommen von ein Jugendmagazin und wir wollen uns mehr auf Jugendliche beziehen …

Ich denke, dass …

Es gibt da zwei widerstreitende Thesen – in Deutschland jedenfalls. Wir haben Studien von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die außerordentlich positiv sind. Die breite Mehrheit der Jugendlichen lebt denen zufolge sexuell gleichberechtigt – damit sind wir alle sehr zufrieden.

Dann gibt es aber auf der einen Seite, sagen wir mal ganz rechts, die antisexuelle Haltung von Organisationen wie „Wahre Liebe wartet“ und auf der anderen Seite genauso ein Extrem: Rapper, die auf Frauen scheißen und Mädchen einfach nur vergewaltigen wollen.

Und es gibt auch Mädchen, die ihre Sexualität als kleine Münze behandeln. Also eher Unterschichtsmädels, die schon mit 12, 13, wenn sie aus der Disko kommen und kein Geld haben, zum Taxi gehen und sagen: „Ich blas dir einen, wenn du mich nach Hause bringst.“ Das ist eine Zahlweise. Das sind keine Prostituierten. Die würden nie auf die Straße gehen, nein, das wollen sie gar nicht. Nur wenn’s nötig ist, macht man das eben. Aber ich bin eher an der Mitte, der großen Mehrheit interessiert, und nicht so sehr an diesen Extrembeispielen.

Wie würden Sie denn die aktuelle gesellschaftliche Lage beurteilen?

Da bin ich pessimistisch. Also was die Politik betrifft: Die Demokratie wird in unseren Ländern nicht mehr untergehen. Passt auf, dass ihr nicht vereinsamt, dass ihr nicht euer Leben kaputt macht. Das ist die Hauptsache. Das wird häufig als Moralisiererei verkannt. Aber ich bin kein Moralist, mich interessiert das überhaupt nicht. Wenn die Leute das so wollen, dann müssen sie es so machen – jeder ruiniert sich auf seine Weise.

Ein ganz klares Wort zur Jugend: Ihre Sexualität macht mir nicht so große Sorgen. Sorgen macht mir vielmehr, dass die Jungen saufen und Pillen fressen wie die Geisteskranken. Damit machen sie sich und auch ihre Beziehungen kaputt. Sexuell müssen die Jugendlichen experimentieren, und zwar mit allem, was sie haben. Das war immer so, jetzt kommen sie aber offener damit raus, was die Erwachsenen häufig erschreckt, weil die es selber nur unter der Bettdecke gemacht haben.

http://www.oswaltkolle.de

Bild(er) © Rowohlt
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