Stilsicher geht die Welt zugrunde

Ein klischeeloser Film über die Liebe – und warum das Geschlecht dabei eigentlich keine Rolle spielt: Xavier Dolan überzeugt mit seinem Gespür für das Überemotionale.

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Im Montréal der 90er, zwischen hässlichen Hemden und kaltem New Wave von Visage lässt der gerade mit einem kleinen Literaturpreis ausgezeichnete Autor und Lehrer Laurence plötzlich das Mann-sein sein, und wird praktisch über Nacht zur Frau.

Das stößt zunächst einige vor den Kopf, am meisten aber seine Freundin Fréd (bezaubernd und zu Recht bei "Un Certain Regard" in Cannes als beste Schauspielerin ausgezeichnet: Suzanne Clément). Sie nimmt nach kurzem Zögern die neue Identität von Laurence an – widerspenstig und unsicher zwar, aber doch im Unterbewusstsein davon überzeugt, dass Liebe nicht an Geschlechtergrenzen gebunden sein sollte.

Fréd assistiert Laurence bei den ersten Schritten in seiner neuen Welt, zum Beispiel dem ersten Schultag in Frauenkleidern. Trotzdem treiben sie die eigene Konventionalität und gesellschaftliche Gender-Bürde später wieder von Laurence weg.

Zwei Magneten, die sich im Laufe des gesamten Films immer wieder anziehen, nur um sich gleich darauf wieder voneinander abzustoßen. Viel vom angeblichen Freigeist von Fréd ist inszeniert, auch die gesellschaftlichen Umstände erleichtern die Entscheidungen für Fréd nicht gerade.

Protegiert vom kanadischen enfant terrible Gus van Sant gelingt Regie-Wunderkind Xavier Dolan mit „Laurence Anyways“ ein Liebesfilm, der sich in keinem Augenblick an Gender-Klischees bedienen muss. Dolan, der zuvor mit seinem Erstling „Ich habe meine Mutter getötet“ und dem Film „Herzensbrecher“, zwei Kritikererfolge feiern konnte, legt mit „Laurence…“ eine ernsthafte und zugleich lockere Arbeit vor. Mühelos hangelt er sich durch schrilles Gefühlskino, auf der Jagd nach der einen, bedingungslosen aber unmöglichen amour fou. Dass Dolan ab und zu etwas zu stark in die Tasten der Ästhetik-Klaviatur greift und sich in Verspieltheiten verliert , wie etwa bei vielen, vielen Slow-Motion-Einstellungen, stört nicht weiter, wirkt sich aber auf die Spiellänge aus (mehr als 2,5 Stunden).

Verliebt (bis) ins Detail (von Farben bis zu Frisuren und Kostümen und 4:3-Format) ist „Laurence Anyways“ kitschig, pompös, banal und rauschig zugleich, und drängt einem das unverbesserlichen Gefühl auf, dass die Liebe zwischen Laurence und Fréd viel purer ist als alles was man sich als Seher jemals auch nur ansatzweise vorstellen könnte.

Ständig pocht die unbequeme Frage im Kopf, ob man denn selbst stark genug dafür wäre: Die Grenzen des Körpers im Kopf zu überwinden. „Laurence Anyways“ ist der kleine Entwurf einer großen Liebe. When did you start dressing up like a woman?

Laurence Anyways wird im Rahmen des Identities Festivals in Wien gezeigt.

Österreich-Premiere:

14.06.2013, 22.00 Uhr

Filmcasino Wien

„Laurence Anyways“ von Xavier Dolan

Bild(er) © Bild 1: Laurence (Melvil Poupaud) © Thimfilm; Bild 2: Fred (Suzanne Clément) © Thimfilm, Shayne Laverdière; Bild 3: Laurence (Melvil Poupaud) © Thimfilm, Shayne Laverdière; Bild 4: Laurence (Melvil Poupaud) © Thimfilm, Clara Palardy
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