Übung in Grausamkeit in bunt – »Das Große Heft« am Kosmos Theater

Wie überleben in einer Welt, in der alles Gute abhanden gekommen scheint? Makemake Produktionen haben für das Kosmos Theater einen Roman über das Aufwachsen von Zwillingsgeschwistern während des Krieges adaptiert: Dreckig, bunt und fordernd.

© Bettina Frenzel

Die Zwillinge tanzen, während Großmutter in ein Mikrofon singt. Alles ist in blauer Farbe ausgeleuchtet. Eine Nebelmaschine trübt den Blick, weitere Discobeleuchtung schickt bunte Laserstrahlen durch den Raum. Ein Bild, das irritiert. Wie fügt es sich in diesen Theaterabend ein?

Die Welt scheint bereits in Schutt und Asche zerlegt, als sich die PerformerInnen aus den Erdhügeln im Bühnenraum herauswinden. Sie entsteigen dem Dreck, winden sich darin und huschen darüber hinweg. Adressiert an das Publikum erzählt das Figurenensemble, wie sie Kriegszeiten in der Provinz er- und (mehr oder weniger) überlebt haben. Gespielt wird dabei mit voller Kraftanstrengung, während für den Handlungsverlauf Textprojektionen zu Hilfe genommen werden, um immer wieder Rahmen zu schaffen oder weiterzuerzählen. Man schöpft aus dem multimedial Vollen, um fast kaleidoskopartig einen Bildreigen entstehen zu lassen. Damit ist »Das Große Heft«, derzeit aufgeführt am Wiener Kosmos Theater, vor allem eine sehr überraschende Umsetzung eines (Anti-)Kriegsstoffes.

Ein Regelwerk zur Abhärtung

Dem Theaterabend zugrunde liegt der gleichnamige Roman »Le grand cahier« von der ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin Ágota Kristóf, der damit beginnt, dass eine Mutter ihre Zwillingskinder, zwei Buben, zu deren in der abliegenden Provinz wohnenden Großmutter bringt. In der Stadt sei es aufgrund des herrschenden Krieges und damit einhergehenden Bombenhagels zu gefährlich (angespielt wird auf den zweiten Weltkrieg aus ungarischer Perspektive). Doch sind die Zwillinge damit sofort auf sich gestellt, hat Großmutter so gar nichts (Ersatz-)Mütterliches. Thematisch verbleibt die Geschichte erst mal genretypisch, da wirft der Roman die Frage auf, wie viel Menschlichkeit in Kriegszeiten eben nicht bewahrt werden kann und was es abzulegen gilt, um im Überlebenskampf zu triumphieren.

Beschrieben wird sprachlich zurückgenommen, gehen hier die sprachliche Form mit dem Erzählten eine Symbiose ein: Das namengebende Heft, das die Kinder nun mit Aufsätzen füllen, ist ein Kauf der Zwillinge beim ortsansässigen Schreibwarengeschäft. Sofern wir nicht sowieso lesen, was sie schreiben, bekommen wir bereits mittels der Form ein Gefühl für die Notwendigkeit pragmatischen Denkens im Überlebenskampf. Das Niedergeschriebene folgt dabei auch klaren Regeln. So bedürfen beispielsweise Zuschreibungen einer Neutralität. »Großmutter sieht aus wie eine Hexe« beinhaltet eine Wertung, während »Die Leute nennen Großmutter eine Hexe« die Wiedergabe einer Tatsache ist. Doch für die Zwillinge geht diese notwendige Transformation über eine Modifizierung von Sprach- und Denkprozessen hinaus. Sie betteln, um zu wissen, wie sich betteln anfühlt (»Übung im Betteln«); hungern, um zu wissen, wie sich Hungern anfühlt (»Übung in Fasten«); sie fügen einander Schmerz zu – seelisch und körperlich – um sich daran gewöhnen zu können (»Übung zur Abhärtung des Körpers« & »Übung zur Abhärtung des Geistes«) und üben sich in scheinbar kompletter emotionale Abkapselung. »Unsere Mutter sagte zu uns: Meine Lieblinge! Meine Süßen! Mein Glück! Meine allerliebsten Babys! (…) Diese Wörter müssen wir vergessen, weil uns jetzt niemand solche Wörter sagt und weil die Erinnerung an sie eine schwere Last für uns ist«.

Manchmal dreckig, manchmal bunt – »Das Große Heft« am Kosmos Theater. ©Bettina Frenzel

»Alle Bilder werden verschwinden«

Der Roman für sich genommen trägt viel Elend, oftmals an der Grenze des Erträglichen. Er scheint keine Aspekte des harten Alltags der Zwillinge und die Bekanntschaften, die sie machen – Nachbarstochter Hasenscharte, der örtliche Pfarrer und seine Magd, ein Offizier – auszusparen. Figuren tauchen auf, ihren baldigen Tod antizipierend; Erwachsene missbrauchen die Kinder und die Kinder einander. Eingeschlossen, fernab der Außenwelt.

Das Kollektiv Makemake Produktionen hat »Das Große Heft« unter der Leitung von Sara Ostertag für das Wiener Kosmos Theater adaptiert und sich dabei einer schweren Aufgabe angenommen. Wie einen Roman theatral umsetzen, der vor allem von seiner sprachlichen Form lebt? Das funktioniert zum Beispiel, indem eine eigene Rhythmik gefunden wird. Am Bühnenrand produziert Jelena Popržan während des Bühnengeschehens Musik und Klänge, die dem Theaterabend einen gewissen Fluss verleihen. Tragen die PerformerInnen Regeln vor, so tun sie das Mantra-artig oder im Singsang. Es wird mit verschiedenen performativen Elementen gearbeitet, immer wieder gibt es Bewegungsabläufe, die wiederholt werden.

»Das Große Heft« profitiert gerade hier von den hervorragenden schauspielerischen Leistungen durch die Bank. Dass neben der eigentlichen Geschichte so viel passiert, führt zwar dazu, dass einzelne Elemente der Handlung ein wenig untergehen, Wesentliches wird jedoch transportiert. Obwohl es grundsätzlich unpassend scheint, einer so nüchternen Wiedergabe vom Leben während eines Krieges, einem verdreckten Bühnenbild auch ein buntes Bühnentreiben, den Missbrauchserzählungen auch zur Komik verzerrte Elemente entgegenzusetzen – hier funktioniert das Spiel mit Gegensätzen trotzdem. Sie fordern heraus und beleben den Stoff. Die Figuren scheinen im Bühnenraum gefangen gehalten, wie auch das besetzte Provinzdorf ein einengendes Gefängnis ist (»Alle Bilder werden verschwinden«, wer wird überleben um darüber zu berichten). Das Publikum jedoch wird entlassen – und das mit eindrücklichen Bildern, die es zu verarbeiten gilt.

»Das Große Heft« wird noch bis Samstag, 14. Dezember, am Kosmos Theater aufgeführt. Weitere Informationen zum Stück und die genauen Spielzeiten findet ihr hier.

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