Von der Muse zur Protagonistin – Female Gaze und feministische Fotografie

Nackte Körper, radikale Performances und Selbstporträts: In den 1970ern hielt der Female Gaze Einzug in die Kunstgeschichte. Feministische Künstlerinnen rückten zunehmend die von gesellschaftlichen Normen stark beeinflussten Lebensrealitäten von Frauen ins Scheinwerferlicht. Ihre Arbeit war bahnbrechend, erweiterte den Kunstbegriff und trug maßgeblich zu mehr Awareness für feministische Forderungen bei. Und trotzdem gerieten die Namen der Künstlerinnen samt ihrer Werke vielfach in Vergessenheit. Gebührende Anerkennung fehlt bis heute. Eine Geschichte über die besondere Bedeutung der Fotografie für feministische Kämpfe und die politische Dimension der feministischen Kunst der 1970er.

© Valie Export

Ob alte Meister, Im-, Expressionisten oder Modernisten – in der klassischen Kunstgeschichtsschreibung scheint das Maskulinum oft weniger generisch als schlicht ausreichend. Der traditionelle Kanon ist voller Leonardos, Franciscos und Pablos. Vornamen, die auf A statt auf O enden, sind rar gesät. Und trotzdem greift das Klischee, es hätte abseits ihrer Rolle als Modell und Muse einfach keine Frauen in der Kunst gegeben, eindeutig zu kurz. Forschungsergebnisse der letzten Jahre zeichnen nämlich ein ganz anderes Bild: Künstlerisch tätige Frauen gab es schon immer, nur kennt heute kaum jemand ihre Namen.
Besonders bemerkenswert ist die, vor dem Hintergrund der Frauenrechtsbewegung 1968 entstandene, feministische Fotografie. Immer mehr weibliche Künstlerinnen begannen ihre von gesellschaftlichen Erwartungen geformte soziale Situation fotografisch zu verarbeiten. Noch nie zuvor in der Kunstgeschichte bildeten sich Frauen in dieser Menge und Nachdrücklichkeit selbst ab und eroberten sich so ein Stück weit die Deutungshoheit über die Darstellung von Weiblichkeit zurück.

1975 popularisierte die Filmemacherin und -kritikerin Laura Mulvey in ihrem Essay »Visual Pleasure and Narrative Cinema« den Begriff Male Gaze, den männlichen Blick auf den weiblichen Körper als Objekt, die Darstellung der Frau zur Maximierung der männlichen Schaulust. Der Male Gaze wurde zum Zentrum der Auseinandersetzung für eine feministische Bildsprache. Von Picassos Malereien femininer Formen bis hin zu Megan Fox’ zeitgenössischer Darstellung im Film »Transformers« hat die Präsentation von Frauen durch den Blick lüsterner Männeraugen eine lange Geschichte und allgegenwärtige Präsenz, der wir bis heute nur schwer entkommen. Es ist also kaum verwunderlich, dass – wie so oft – ein historischer Punkt erreicht war, an dem es Frauen schlicht und einfach reichte.

Im experimentellen Biopic »Amy!« von Laura Mulvey und Peter Wollen wird der voyeuristische Blick zurückgeworfen. (Bild: Laura Mulvey / Peter Wollen)

Das Private ist politisch

Im Kampf mit stark verankerten Geschlechterrollen eroberten Künstlerinnen für sich und Frauen weltweit ihre Selbstdarstellung zurück. In der männerdominierten österreichischen Kunstszene der 1960er-Jahre wurden Frauen als Künstlerinnen weitgehend nicht ernst genommen. Viel zu stark waren die gesellschaftlichen Wurzeln der vorgefertigten Rollenbilder, in die sie hineingezwängt wurden. Eine Frau hatte vor allem Hausfrau, Ehefrau und Mutter zu sein. Für Kunstschaffen war hier kein Platz. Doch mit der feministischen Frauenbewegung Ende der 1960er-Jahre und dem damit einhergehenden Protest wehrten sich Künstlerinnen gegen die ihnen so lange vorgeschriebenen Rollen. Ihre Waffe: die Kamera.
Die feministische Aussage »Das Private ist politisch« markierte auch in der Kunstgeschichte einen perspektivischen Shift. Gabriele Schor, Kuratorin der Ausstellung »Feministische Avantgarde. Kunst der 1970er-Jahre« mit Werken der Sammlung Verbund, meint: »Diese Künstlerinnen haben die Scheu davor abgelegt, zu sagen: ›Ich gebe meiner privaten Situation das Gewicht, dafür eine gesellschaftspolitische Dimension zu behaupten. Und insofern gebe ich ihr auch einen Wert, als Thema für die Kunst verarbeitet zu werden.‹ Dadurch haben sie in der Kunst ein völlig neues Bild der Frau geschaffen.«

Fotografie und insbesondere das Selbstporträt wurden innerhalb der bildenden Kunst zum beliebtesten Tool der feministischen Kritik. Malerei ist beispielsweise eine langwierige Angelegenheit – gerade für die Dringlichkeit feministischer Themen. Die Präzision, das lange Trocknen: So ein Medium war nicht gut dafür geeignet, die narrative Struktur von Geschichten wiederzugeben, die feministische Künstlerinnen erzählen wollten. In der vierteiligen Fotoserie »Bügeltraum« der österreichischen Fotokünstlerin Karin Mack bügelt sie zuerst einen schwarzen Schleier, bis sie sich zuletzt selbst wie eine schwarze Witwe auf das Bügelbrett legt und so den Tod der Hausfrau ausruft. Fotografie bot die Schnelligkeit und Leichtigkeit, die feministische Künstlerinnen suchten.

Zudem waren etabliertere Formen wie die Malerei traditionell ein so männerdominiertes Genre, dass Frauen mit der Fotografie ein Medium fanden, mit dem sie sich von der Männerwelt abgrenzen konnten. Sie hatten sich ein Ausdrucksmittel angeeignet, das sie weiblich besetzen konnten. Und die Stars ihrer Kunst waren sie selbst. Jahrhundertelang hatten Männer Frauen durch ihren Male Gaze hindurch dargestellt. Indem Künstlerinnen sich nun im Selbstporträt vor die eigene Linse begaben, eroberten sie sich den Blick auf den weiblichen Körper zurück.

Genitalpanik

Valie Export sitzt mit gespreizten Beinen, Lederjacke und Maschinenpistole vor uns. Der Schritt ihrer Hose ist frei, ihre Vulva auf Augenhöhe der Betrachter*innen. Sie zwingt uns, hinzuschauen oder unseren ausweichenden Blick zu bemerken. Die Fotografien der Performance lässt sie als Poster in ganz Wien plakatieren (sie werden sofort wieder abgerissen) und an verschiedene Ausstellungen schicken (sie werden wiederholt abgelehnt). Es dauerte lange, bis feministische Künstlerinnen ernst genommen wurden. Heute ist Exports Werk »Aktionshose: Genitalpanik« eine kunstgeschichtliche Legende und sie Pionierin der feministischen Avantgarde.

Wiens Kunstszene wurde in den 1960ern von den sogenannten Wiener Aktionisten geprägt, einer Gruppe von Männern, die mit schmerzhaften, aggressionsgeladenen Akten gegen sich selbst auf die Gewaltbereitschaft der Menschheit aufmerksam machen wollte. Frauen wurden hierbei nur als Statistinnen benutzt. Aus dieser Szenerie entstammt die Linzer Künstlerin Valie Export (bürgerlich: Waltraud Stockinger) und sie sorgt mit ihren provokanten, feministischen Performances, die sie mittels Fotografie festhält, rasch für Aufregung. Als die Künstlerin mit einer Box vor den Brüsten und der Aufforderung, man solle doch hineingreifen, durch Wiens Straßen spaziert, ist die mediale Empörung groß. Ihr »Tapp- und Tastkino« sorgt für so viel Tumult, dass dessen Präsentation bei einer Preisverleihung zu einer regelrechten Schlägerei ausartet. Es war der »erste mobile Frauenfilm«, eine wie so oft sarkastisch verpackte Kritik unter Aufopferung des eigenen Körpers.

Nacktheit als Revolution

Genau wie Valie Export nutzten viele feministische Künstlerinnen den eigenen Körper als Medium der Kritik. Die Nacktheit nahm dabei eine sehr wohl umstrittene, aber zentrale Rolle ein. Ihre nackten Körper als Form des Protests zu verwenden, reiht sich hierbei in die jahrhundertealte Tradition von Frauenbewegungen ein. Die »Nackte Demonstration« von Fabrikarbeiterinnen in Südkorea im Jahr 1976 und feministische Aktivistinnen, die vergangenen Juli in Spanien mit nacktem Oberkörper gegen die Verwendung einer faschistischen Hymne protestieren, sind nur zwei von vielen Beispielen, in denen Nacktheit eine zentrale Rolle für politischen Widerstand spielt. Sich nackt oder halbnackt zu fotografieren, ist eine Form der Selbstbestimmung und Kontrolle über die eigene Sexualisierung, die den Frauen lange Zeit von Männern weggenommen wurde und immer noch wird.

Mit scharfen Nieten besetzte Brüste, spitze, lange Finger, die mit Kondomen überzogen sind, geneigte Phalli über einem Konferenztisch – auch die feministische Wiener Fotografin Renate Bertlmann findet ihre künstlerische Stimme in Haut und Körperlichkeit. Ihre Fotografien sind Bilder einer Frau, die sich aktiv gegen gesellschaftliche Instruktionen stellt. Einer Frau, die sich sozialen Normen nicht zum Komfort anderer beugt, die keine Angst hat im Weg zu stehen.

Verfremdung und Widerständigkeit von Körpern sind wie hier bei Renate Bertlmann oft Themen der feministischen Kunst. (Bild: Renate Bertlmann / Bildrecht)

Der Kampf gegen sexistische Rollenbilder wurde jedoch nicht nur durch das Zurschaustellen nackter Haut ausgetragen. Oft wurden genau diese Stereotypisierungen als Stilmittel feministischer Selbstporträts benutzt: Im Werk »Hausfrauen – Küchenschürze« der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen blickt diese mit einem stoischen Ausdruck frontal in die Kamera. Um ihren Nacken hängt, wie eine Schürze, ein merklich schwerer Herd, der sie mit seinem Gewicht Richtung Boden zieht. »Das Thema ist Feminismus, es geht um die Situation der Frau damals. Und da gibt es viele Aspekte: zum Beispiel Hausfrau, Ehefrau, Mutter, die weibliche Sexualität, oder sich generell eingeschränkt zu fühlen«, erläutert Kuratorin Gabriele Schor.

Inspiriert von den überzeichneten, kommerziellen Frauenbildern der (ebenso männerdominierten) Pop-Art, die zu diesem Zeitpunkt am Höhepunkt ihres Erfolges war, nahmen feministische Fotografinnen Fotos aus hochpolierten Verkaufskatalogen oder Lifestyle-Magazinen zum Vorbild und stellten diese provokativ und zynisch nach. Auf analogem Film schlüpften sie wie Schauspielerinnen in all die unterschiedlichen Rollen, die sie in der Gesellschaft spielen mussten.

Doch auch wenn so ein kleines Gerät wie eine Kamera, so einen großen Unterschied für die Lebensrealität von Frauen machte, darf nicht vergessen werden, dass es sich hierbei trotzdem um einen feministischen Kampf handelt. Frauen stellten sich nicht einfach vor die Linse, drückten den Selbstauslöser und wurden dann plötzlich als den männlichen Kollegen ebenbürtige Künstlerinnen respektiert. Sie mussten sich selbst organisieren, bis sie ernst genommen wurden. Die Gründung von Magazinen und Organisationen sowie die selbstständige Planung von Ausstellungen waren essenzielle Bausteine eines feministischen Fundaments, das österreichische Fotografinnen bauten, um sich von sexistischen Darstellungen und traditionellen Rollenbildern befreien zu können.

Späte Wertschätzung

Obwohl die Werke von Pionierinnen wie Export, Bertlmann und Jürgenssen in künstlerischer wie politischer Hinsicht den Kunstdiskurs stark prägten, bleibt Anerkennung dafür auch heute noch weitgehend aus. Das ändert sich langsam – aber sicher. Es werden Ausstellungen zu feministischen Künstlerinnen kuratiert, Werkkataloge und Essays befassen sich mit der Arbeit von Frauen. Und sogar in der bekannten Netflix-Serie »Sex Education« gibt es mit Aimee eine Protagonistin, die sich von den Werken feministischer Fotografinnen inspirieren lässt. Auch Schor sieht aktuell eine gesellschaftliche Neugierde: »Die jetzige Generation wächst quasi damit auf, dass vieles schon erforscht wurde. Trotzdem gibt es immer noch ein Interesse weiterzuforschen.« Feministische Werte sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wir können gespannt sein, was die nächsten Jahre und Jahrzehnte der Forschung noch so offenbaren werden.

Dem filmischen Werk von Laura Mulvey widmet sich bis 8. Jänner 2024 eine Retrospektive im Filmmuseum. Arbeiten von Birgit Jürgenssen sind bis 14. Jänner 2024 Teil der Ausstellung »On Stage – Kunst als Bühne« im Mumok. Die Ausstellung »Renate Bertlmann: Fragile Obsessionen« ist noch bis 3. März 2024 im Belvedere zu sehen. Valie Export wird im Rahmen der Kulturhauptstadt 2024 im Salzkammergut mit neuen Projekten vertreten sein.

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