Alle Zeichen stehen auf Sommer im Werk X-Petersplatz, wo in »Hideaway. Liebe und andere Radikalitäten« vier queere Figuren in gedacht-mediterranem Setting abhängen und ihre Lebensrealitäten diskutieren.
»Ich will nicht alleine sterben und erst gefunden werden, wenn meine Knochen blank sind und die Miete überfällig«, spricht die nicht näher benannte Figur in Sarah Kanes vorletztem Theatertext »Gier«. Vier Figuren treten darin auf die Bühne und sprechen abwechselnd Sätze über Liebe, über Schmerz, Sehnsucht und Verlangen. Das klingt rührseliger als es ist – wer einmal ein Stück von Sarah Kane gelesen oder gesehen hat, der*die weiß um die Trostlosigkeit und Düsternis, die ihre Beschäftigung mit menschlichem Zusammenleben oftmals haben. In Wien wurde »Gier« zuletzt 2013 an einem Theaterabend zusammen mit Iwan Wyrypajews »Illusionen« gezeigt, einem Stück über Irrungen und Wirrungen der Liebe, in dem vier handelnde Akteur*innen, zwei cis-heterosexuelle Paare, im hohen Alter – teils am Sterbebett – ihr Leben Revue passieren lassen und dabei enthüllen, dass sie einander nie liebten; teils stattdessen in eine Person des befreundeten Paares verliebt waren, teils ihr Leben lang unerwiderte Liebe erlebten.
Romantisierte Fehlannahme
Diese zwei Stücke eint vornehmlich die Charakterisierungen der Liebe als chaotisch und als nicht trennbar von großem Schmerz. Es sind Erzählungen wie diese, über die bell hooks in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren ihre kritischen Theorien über Liebe entwickelt hat; allem voran in »All About Love: New Visions«. Darin schreibt hooks u.a.: »Den meisten Kindern, die seelische oder körperliche Gewalt erfahren haben, wurde von ihren Eltern vermittelt, dass Liebe und Misshandlung nebeneinander existieren können, in einigen extremen Fällen sogar, dass Misshandlung eine Form von Liebe ist. Diese Fehlannahme prägt oft auch unsere erwachsenen Vorstellungen von Liebe«. Oder auch an anderer Stelle: »Wenn wir in jungem Alter fehlerhafte Definitionen von Liebe lernen, fällt es uns im späteren Leben schwer zu lieben. Wir starten auf dem richtigen Weg, gehen aber in die falsche Richtung.«
Selbst all jene, die in ihrer Kindheit keine dysfunktionalen Verhältnisse oder Missbrauchserfahrung gemacht haben, umgeben im deutschen Sprachraum (und darüber hinaus) Erzählungen über die Liebe, die alles andere als gewaltfrei oder wertschätzend und auf Augenhöhe über die Liebe berichten. Im Theater liegen Liebe und Schmerz in jedem Fall nah beieinander. Produzierte »Romeo und Julia«, die vornehmlich »berühmteste Liebesgeschichte aller Zeiten«, nicht drei Morde und zwei Freitode? Sowieso ist die Tragödie ja gerade für Frauen gefährlich, werden sie auch gerne mal von ihren »Geliebten« ermordet. Man denke an »Othello«, an »Woyzeck« oder »Kabale und Liebe«. Als popkulturelles Beispiel einer toxischen Beziehung, die als romantisch geframt wird, kommt in »Hideaway. Liebe und andere Radikalitäten« das ewige Hin und Her zwischen Ross und Rachel in der US-amerikanischen 90er Sitcom »Friends« vor.
Das Private ist politisch
Entstanden ist »Hideaway. Liebe und andere Radikalitäten«, das am Sonntag im Werk X-Petersplatz uraufgeführt wurde, aus einer Beschäftigung unter anderem mit dem bereits zitierten Werk von bell hooks, wie auch weiteren Texten von Şeyda Kurt und Josephine Apraku. Eine der beiden Gründerinnen des Kollektivs Bauer + Baum war gerade frisch getrennt und stand nun wieder in engerem Kontakt zu ihrer Freundin seit 33 Jahren, mit der sie das »Hideaway« konzipierte. »Ich verstand, dass die großen Lieben des Lebens oft nicht die sind, mit denen man romantische Beziehungen führt, Familien gründet oder Sex hat«, heißt es dazu im Mission Statement des Stücks.
In »Hideaway. Liebe und andere Radikalitäten«verbringt das Theaterpublikum Zeit mit vier Hauptfiguren, die den Sommer über in einem Bungalow in Italien wohnen. Sie sonnen sich, hören Musik, lesen, essen gemeinsam und diskutieren miteinander. Dabei kommen sie auch immer wieder auf die Liebe zu sprechen, verhandeln Diskurse über die Liebe, zum Beispiel solche von Erich Fromm oder erzählen, was die eigenen Eltern sie über die Liebe gelehrt haben. Das ist deutlich kurzweiliger und weniger unangenehm-theorielastig, als das in diesem Text vielleicht anklingt. Vielmehr evoziert »Hideaway« Sommergefühle, die entfernt an die Stimmung in Filmen von Luca Guadagnino erinnern oder an François Ozons Kurzfilm »Une Robe d’été«, sprich Hitze, Trägheit und Fadisieren.
Gespielt wird in einem vom Publikum umstellten Bungalow, der von allen Seiten einsichtig ist. Inspirieren lassen hat man sich dabei von den architektonischen Designs von Richard Neutra. Übersetzt wird damit eine Grundlage, die auch Şeyda Kurt in ihrem Sachbuch Radikale Zärtlichkeit als Anlass ihrer Beschäftigungen mit der Liebe nimmt: Eine Kritik an der Dichotomie des Politischen gegenüber dem Privaten, bei dem die Liebe vermeintlich in letztere Kategorie falle. Schließlich blendet eine solche Perspektive aus, wie stark die Liebe gesellschaftlichen Normen und Machtstrukturen unterliegt. Und wie sich überhaupt zurecht finden in diesem Diskurs aus hierarchisch geformten Miteinander?
Sich selber ausstellen
Gespielt wird der Theatertext von einem jungen diversen Ensemble. Die sexuellen und platonische Beziehungen der queeren Hauptfiguren machen sich versuchsweise explizit von Heteronormativem frei. Am stärksten scheint der Theaterabend von den angesprochenen Diskursen informiert, wenn queere Freundschaft als veritabel-akzeptable Form der Zärtlichkeit gezeigt wird. Die heteronormative Zweier-Beziehung funktioniert für die Figuren aus verschiedenen Gründen eher nicht so. Aber wer hat denn zu entscheiden, dass diese die einzig wichtige wäre? Vor allem queere Menschen dürften sich in einigen der Dialoge, die auf der Bühne geführt werden, wiederfinden – zumindest dem Autor dieser Zeilen ist es so gegangen.
Nicht ausgeblendet wird bei all den Diskussionen über die eigenen Lebensführungen jedoch nicht, dass die Welt außerhalb des kleinen Bungalows auch Bedrohungen bereithält. Gleichwohl man sich hier einen kleinen Safe Space geschaffen hat, irgendwo in Italien, wo dieser Bungalow verortet ist, steht mit Giorgia Meloni nicht die erste (und wahrscheinlich auch nicht die letzte) Person als Ministerpräsidentin an der Spitze, die offen gegen queere Menschen im Speziellen und quasi Minderheiten im Allgemeinen hetzt. Alternative Formen des Miteinanders bilden immer auch starke Angriffsflächen, wenn sie in sich bestimmte gesellschaftliche Machtverhältnisse infrage stellen. Der Glaskasten kann dabei auch ziemlich ausstellend wirken. Das kann gerade als als Zuschauer*in, der*die voyeuristisch hineinschaut, überdeutlich werden. Denn Blicken entfliehen können die Figuren hier nicht.
Gehaltvoller Urlaub
»Hideaway. Liebe und andere Radikalitäten« ist gelungen in dem, was es tut. Den Wechsel auf die Meta-Ebene zum Schluss hätte es vielleicht nicht gebraucht, um die Aktualität aufgeworfener Themen aufzuzeigen. Gleichsam mag man der Inszenierung nicht vorwerfen, ein Publikum dazu auffordern zu wollen, die eigene Gegenwart kritisch mit Fokus auf den Umgang mit queeren Menschen zu befragen. Für die kompakte Laufzeit ist das Stück damit nicht nur gute Unterhaltung sondern auch durchaus gehaltvoll. Ein lustvoller Theaterabend ohne Längen, der sich tatsächlich etwas wie Urlaub anfühlt – ein Urlaub mit Menschen, mit denen das Diskutieren über einem Glas Rotwein sehr anregend, manchmal laut, aber vor allem irgendwie schön ist.
Weitere Spieltermine von »Hideaway. Liebe und andere Radikalitäten« sind am 15., 16. und 17. Juni (jeweils um 18 und um 20 Uhr). Mit dem Passwort »PRIDE« können Tickets zum Spezialtarif von 10€ erworben werden.