»Zuerst zeigten sie ihr Haar, dann tanzten sie« – Nader Saeivar im Interview zu »The Witness«

Ein Mord, eine Zeugin und der Versuch, sich gegen das Regime zu stellen. Nader Saeivar zollt in seinem neuen Film den Frauen im Iran Tribut.

© Golden Girls FIlm

Einen regimekritischen Film im Iran zu drehen, ist gleichsam komplex wie gefährlich. Der iranische Autor und Regisseur Nader Saeivar begann bereits 1992 mit der Produktion von Kurzfilmen. 2018 erhielt er für den Film »3 Faces« in Cannes den Preis für das beste Drehbuch. Gemeinsam mit Jafar Panahi, der wegen seines künstlerischen Schaffens mehrfach inhaftiert wurde – zuletzt 2022. Mit ihm hat er nun auch das Drehbuch zu »The Witness« verfasst. Der Film handelt von der pensionierten Tanzlehrerin Tarlan (Maryam Boubani), die um Gerechtigkeit kämpft, nachdem sie einen Mord beobachtet hat. Inspiriert haben den Filmschaffenden die Frauen im Iran, die gegen das dortige Regime protestieren. Dies tun sie mitunter durch den Einsatz ihres Körpers – sie tanzen auf den Straßen, mit offenen Haaren und mutigem Blick.

Was war der Anstoß für die Geschichte, die in »The Witness« erzählt wird?

Nader Saeivar: Die Ereignisse der letzten zwei Jahre im Iran, die als »Frau, Leben, Freiheit«-Revolution bekannt sind, bewegten mich tief. Ich hatte das Gefühl, dass ich als Künstler auf diese bedeutende soziale Bewegung reagieren musste. Deshalb beschloss ich, einen Teil des Lebens der iranischen Bevölkerung in diesen Jahren filmisch zu dokumentieren. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Menschen leider dazu neigen, zu schnell zu vergessen.

Der Film wurde im Iran gedreht – ohne Genehmigung des Regimes. Welche Schwierigkeiten ergaben sich dabei?

Da ich bereits Erfahrung damit hatte, Filme ohne Genehmigung zu drehen, wusste ich, wie ich unauffällig arbeiten konnte. Von Anfang an versuchten wir nicht einmal, eine Drehgenehmigung zu bekommen – wir drehten den Film ohne sie. Bei den Innenszenen gab es nicht viele Probleme, da wir einfach die Türen schließen und drinnen arbeiten konnten. Bei den Außenszenen mussten wir jedoch verschiedene Techniken für den Bildausschnitt und die Absperrung anwenden. Wir versteckten die Kameras in Taschen oder Autos und verwendeten Teleobjektive. In einigen Fällen mussten wir aus dem Inneren eines Fahrzeugs mit getönten Scheiben filmen, um sicherzustellen, dass die Kamera unsichtbar blieb.

Wie sieht die aktuelle Filmszene im Iran aus? Ist »The Witness« ein typisches Beispiel dafür?

Wenn man heute über den Iran spricht, muss man zuerst klären, welchen Iran man meint. Das Leben im Land hat sich in zwei Teile gespalten. Ein großer Teil der Bevölkerung hat nichts mit der Regierung zu tun. Sie haben ihre eigenen Zeremonien, ihre eigenen politischen Figuren, sogar ihre eigenen Feiertage. Es ist, als hätten sie sich vom Staat losgesagt. Sie haben ihre eigenen Untergrundkonzerte, ihr eigenes Theater und ihr eigenes Kino – völlig unabhängig von der offiziellen Regierung des Iran. Dann gibt es noch das kleine Segment, das die iranische Regierung versucht, der Welt als die iranische Nation zu präsentieren. Dort gibt es eigene offizielle Festivals und staatlich gefördertes Kino. Aber alle ernsthaften, intelligenten und bedeutenden iranischen Filme werden in der Untergrundszene gedreht. Diese Filme werden auf Festivals ausgezeichnet und – was noch wichtiger ist – sie erreichen ein großes weltweites Publikum, weil sie wahrhaftig sind. Die Menschen erkennen diese Authentizität an. Im Gegensatz dazu besteht das offizielle iranische Kino, das in hohem Maße vom Staat finanziert wird, entweder aus seichten, bedeutungslosen Komödien oder aus Propagandafilmen, die die Regierungspolitik unterstützen. Dieses Kino ist nicht sehenswert.

Nader Saeivar (Bild: Golden Girls Film)

Für »The Witness« haben Sie abermals mit dem ebenso aus dem Iran stammenden Regisseur Jafar Panahi zusammengearbeitet. Wie würden Sie Ihre Zusammenarbeit beschreiben? Was ist Ihnen beiden dabei wichtig?

Wir arbeiten schon seit Jahren zusammen, weil wir uns verstehen. Jafar Panahi gab mir den Mut und das Vertrauen, die Filme zu machen, die ich wirklich machen wollte. Wir schreiben oft gemeinsam Drehbücher und wenn es um die Regie geht, war er immer wie ein Mentor an meiner Seite. Jafar Panahi war die erste Person im iranischen Kino, die bewiesen hat, dass jemand, der wirklich einen Film machen will, durch nichts aufgehalten werden kann. Er hat viele junge Filmemacher*innen im Iran dazu inspiriert, mit minimalen Mitteln und trotz aller Beschränkungen Filme zu drehen, ohne dafür eine offizielle Genehmigung zu haben. Gleichzeitig machte ihn sein unerschütterliches Eintreten für seine politischen Überzeugungen zu einem Vorbild – auch für politische Persönlichkeiten.

Für eine jüngere Generation im Iran ist Tanz ein wichtiges Ausdrucksmittel. Sie selbst haben Tanz einmal als die Waffe der Generation Z bezeichnet. Könnten Sie etwas näher erläutern, wie sich diese Bedeutung in »The Witness« ausdrückt und wie Sie Tanz hier einsetzen?

Der Kampf der iranischen Frauen für ihre Grundfreiheiten begann nach der Revolution von 1979. Leider wurden die Frauen in den ersten Tagen aufgrund des revolutionären Eifers und der Begeisterung des Volkes stark unterdrückt. Tarlan, die Hauptfigur unseres Films, repräsentiert genau diese Frauen. Nach der Revolution wurde der Iran in einen achtjährigen Krieg verwickelt, der der Regierung die perfekte Gelegenheit bot, jede Opposition unter dem Vorwand des Krieges zu unterdrücken. Die Frauen der nachfolgenden Generation wagten nicht einmal zu protestieren. In diesem Sinne waren die Frauen der 1980er-Jahre vielleicht die am meisten unterdrückten Frauen in der modernen iranischen Geschichte. Die Töchter, die sie zur Welt brachten, weigerten sich jedoch, Unterdrückung und Schweigen zu akzeptieren. Jede Generation von Frauen hatte ihren eigenen Stil und ihre eigene Methode des Widerstands. In der Vergangenheit experimentierten einige von ihnen mit dem bewaffneten Kampf, mit Guerillagruppen und sogar mit Selbstmordmissionen, aber diese Bemühungen scheiterten.

Aus welchen Gründen auch immer vertraute die Generation Z diesen politischen Gruppierungen nicht – weder innerhalb noch außerhalb des Irans. Sie musste ihre eigene Methode des Widerstands definieren. Und so setzten sie die einzige Waffe ein, die sie hatten: ihren eigenen Körper. Zuerst zeigten sie ihr Haar, dann tanzten sie. Als wir uns daran machten, den Film zu drehen, konnten wir dieses entscheidende Element nicht außer Acht lassen. Deshalb stellten wir uns vom ersten Tag an den Tanz als zentrales Motiv des Films vor.

»The Witness« bezieht sich auch direkt auf die »Frau, Leben, Freiheit«-Proteste im Iran. Wie erlebten Sie diese Proteste bisher beziehungsweise was wurde im Iran selbst erreicht?

Zu Beginn der Proteste war ich selbst im Iran, und in den ersten Tagen war ich mit anderen auf der Straße und erlebte die Demonstrationen aus erster Hand. Aber die Wahrheit ist, dass ich nie den Mut und die Furchtlosigkeit der Generation Z hatte. Als die Regierung begann, mit Gewalt zu reagieren, bekam ich Angst und ging nach Hause. In den sozialen Medien sah ich dann, dass meine Freund*innen und so viele junge Menschen immer noch auf der Straße waren, woraufhin mich ein tiefes Schuldgefühl überwältigte. Diesen Film zu drehen, war also nicht nur eine soziale Verantwortung für mich – es war auch eine Art persönliche Therapie, ein Weg, meine Schuldgefühle zu lindern.

Was die Ergebnisse der Bewegung und die aktuelle Situation angeht, so sind Politiker*innen besser geeignet, diese zu analysieren. Aber so wie ich das sehe, fangen große Veränderungen immer mit kleinen Veränderungen an. Ich bin mir sicher, dass der Iran in den kommenden Jahren keine andere Wahl haben wird, als sich stark zu verändern. Diese Veränderungen könnten sogar aus dem Inneren des Systems selbst kommen. Natürlich halte ich es für unwahrscheinlich, dass es zu einem solchen Wandel kommt, solange Herr Chamenei noch am Leben ist. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass der Wandel dem System von außen, vom Volk, aufgezwungen wird. Natürlich werden die Kosten für einen solchen Übergang viel höher sein.

»The Witness« (Bild. Golden Girls Film)

Sie erzählen die Geschichte anhand der Figur Tarlan. Warum haben Sie sich für diese Perspektive entschieden und wie würden Sie Tarlan beschreiben?

Eine Frau namens Gohar Eshghi, die ihren einzigen Sohn durch die Folter des iranischen Geheimdienstes verloren hatte, war für mich immer eine zutiefst einflussreiche Persönlichkeit. Ich wollte zwar einen Film über die Proteste der Bevölkerung drehen, verspürte aber auch den tiefen Wunsch, dieser unglaublich mutigen Frau Tribut zu zollen. Das Bild, wie sie allein auf der Straße steht, ein Foto ihres Sohnes in der Hand hält und ihren Protest fortsetzt, war wirklich inspirierend. Schon beim Casting habe ich nach jemandem gesucht, der diese Frau im Bewusstsein des Publikums physisch und visuell hervorrufen konnte. Glücklicherweise hat Maryam Bobani eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr. Gohar Eshghi ist als Mutter der Revolution bekannt und ihre Widerstandsfähigkeit hat sie zu einer bedeutenden Figur in der Opposition gegen die iranische Regierung gemacht.

Generell stehen Frauen und deren Beziehungen im Zentrum des Films. Wieso?

Die jüngste Revolution, die im Iran begann, ist ihrem Wesen nach eine Frauenrevolution. Tatsächlich gibt es schon seit zwanzig Jahren Vorhersagen dieser Art: dass jeder bedeutende Wandel im Iran zweifellos von iranischen Frauen vorangetrieben würde. Die Realität ist, dass das iranische Regime aufgrund seiner religiösen und ideologischen Natur Frauen der härtesten Unterdrückung aussetzt. Natürlich wird all diese Unterdrückung mit religiösen und islamischen Gesetzen gerechtfertigt. Es ist ganz natürlich, dass diejenigen, die am meisten unterdrückt und ausgegrenzt wurden, als erste ihre Stimme zum Protest erhoben. Der Islam ist von Natur aus männerzentriert.

Wenn Sie ein muslimischer Mann sind – unabhängig davon, ob Sie gierig oder unterdrückerisch sind – können Sie Ihre Handlungen leicht mit Verweisen auf Koranverse oder religiöse Interpretationen rechtfertigen. Für Frauen besteht diese Möglichkeit jedoch nicht, sie wurden im Laufe der Geschichte auch als Bürger zweiter Klasse oder minderwertige Wesen dargestellt. In »Nahdsch al-Balāgha«, der Sammlung von Predigten und Schriften des Imams Ali, des ersten Imams des schiitischen Islams, werden Frauen ausdrücklich als irrationale und unvollständige Wesen beschrieben. Wegen all dieser Beschreibungen denke ich immer, wenn ich eine Muslimin sehe, die ihren Glauben vehement verteidigt, dass sie entweder die Lehren des Islams nicht sorgfältig gelesen hat und sich dessen nicht bewusst ist – was häufig der Fall ist – oder dass sie auf eine Art und Weise aus der Situation Nutzen zieht, die wir nicht kennen.

Wie kam es dazu, dass der Film unter anderem von der österreichischen Golden Girls Film produziert wurde? Wie lief die Zusammenarbeit ab?

Durch meinen deutschen Produzenten lernte ich Golden Girls und Arash T. Riahi kennen. Auch er hegte starke humanitäre und politische Interessen und für ihn war der Beitrag zur menschlichen Freiheit weitaus wichtiger als finanzieller Gewinn. Deshalb hatten wir eine sehr gute und enge Zusammenarbeit. Von Anfang an war uns beiden klar, dass es unser Ziel war, die Unterdrückung der iranischen Frauen aufzudecken. Unsere Priorität bestand darin, einen augenöffnenden Film zu drehen und im Kampf um die Freiheit eine Rolle zu spielen. Auch heute noch sind wir sehr gute Freunde.

»The Witness« (Bild. Golden Girls Film)

Denken Sie, dass die Geschichte des Films eine universelle ist?

Als ich mit diesem Film in verschiedene Länder reiste und mit Zuschauer*innen auf der ganzen Welt interagierte, wurde mir klar, wie universell dieser Film tatsächlich ist. Die meisten von ihnen hatten in ihren eigenen Ländern ähnliche Situationen erlebt. In europäischen Ländern mag diese Geschichte schon Jahre zurückliegen, in anderen Ländern geschieht sie jedoch immer noch und wird auch weiterhin geschehen. In den Ländern des Nahen Ostens sind die Hände der Politiker*innen normalerweise mit Blut befleckt. Vielleicht kommt das in westlichen Ländern in anderer Form vor. Auf jeden Fall ist die Freiheit wie ein Baum, der immer Pflege braucht. Wenn Sie ihn nur ein Jahr lang vernachlässigen – ihn nicht gießen oder das Unkraut nicht entfernen – verwelkt er schnell. Egal, wo auf der Welt dieser Baum wächst, er muss gepflegt werden. Es ist unsere soziale und menschliche Pflicht. Wie der iranische Dichter Ahmad Schamlou sagt: »Menschlichkeit, die Schwierigkeit der Pflicht!«

Die letzten Jahre waren und sind weltweit von zahlreichen Krisen geprägt. Ihr Film erzählt durchaus auch von Hoffnung. Wie hoffnungsvoll blicken Sie in die Zukunft? Und wie kann Kultur uns helfen, Hoffnung sowie den Kampf für das Gute zu fördern?

Wir glauben, dass die Darstellung dieses wichtigen Teils des Kampfes eine Form des Kampfes für Gerechtigkeit ist. Wir sind keine Guerillas, die zu den Waffen greifen oder sich an physischen Kämpfen beteiligen. Unser Werkzeug ist das Kino und das Kino kann als Mittel dienen, Ungerechtigkeit aufzudecken. Ob wir weiterhin hoffnungsvoll bleiben oder nicht, spielt keine Rolle. In Ländern wie dem Iran gibt es kein Zurück. In gewisser Weise ist die Aufdeckung von Ungerechtigkeit für engagierte Filmemacher*innen in diesen autoritären Ländern keine Wahl – es ist eine Verpflichtung. Das Gleiche kann für Kolleg*innen auf der ganzen Welt gelten. Irgendwann erreichen sie einen Punkt im Leben, an dem ihnen alles andere als die Aufdeckung von Ungerechtigkeit leer und sinnlos erscheint.

Der Film »The Witness« von Nader Saeivar ist ab 16. Mai 2025 in den österreichischen Kinos zu sehen.

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