20 große Kulturensöhne und -töchter aus dem The-Gap-Umfeld erzählen von einschneidenden Erlebnissen und persönlichen Schlüsselmomenten ihrer Vergangenheit – und Zukunft. Teil 1.
Zukunft | Sprache
Ann Cotten: Ein sich in Variationen wiederholender Tag
Wenn ich sehe wie ungeschickt wir unsere Tage angehen, klammernd an idiotische Einbildungen und Vorschriften oder zaghaft unter Bettdecken verharrend, bis das Licht so trüb ist, uns nicht mehr mit unseren vielen Möglichkeiten zu erschrecken, dann verlässt mich jeder Mut für die Zukunft. Dann ist es am Tag, mich zu trösten mit Ereignissen, die mich aus dieser Stimmung rausholen. Jeden Tag wiederholt sich diese Struktur. Alles ist verloren – und im letzten Augenblick taucht eine Atmosphäre auf, die die Werte umkehrt.
Für unentschiedene Menschen wie mich scheint es mir Gift, das zu wissen. Eigentlich sollte aus solchem Wissen um die Relativität von aller Weisheit sprießen, aber in Wirklichkeit bedeutet das pragmatisch nur, dass man jederzeit bereit ist, wahllos alles in Frage zu stellen, wenn man, zum Beispiel, unterzuckert und genervt ist. Wie ein Neugeborenes wird man zuweilen gar akustisch existentiell, wenn nicht alles klappt, wie man will.
Darin, diese wiederkehrende Situation zu reiten, besteht vermutlich die Aufgabe. Wenn sie gelöst wird, so nicht von mir. Irgendeine Schönheit ist es, die mir sagt: lass los. Du musst nicht immer am Steuer sein, du musst nicht wissen, wohin es dich trägt, es trägt dich wohin.
Ja aber ich muss doch wenigstens irgendwas glauben?
Glaub mich, sagt die Schönheit.
In dem Augenblick bin ich verführbar und schon verführt.
Ich brauche also Schönheit in meinem Leben. Das ist das einzige, was feststeht. Alles andere sind irgendwelche Gewohnheiten, ich könnte auch andere haben. Leb ich in Wien oder Berlin oder Novosibirsk oder Tomsk oder im Hartz? In der Stadt oder am Land? Meide ich meine Freunde oder versuche ich sie zu domestizieren? Wie leicht bin ich zufrieden mit Möbeln, die ich selber baue? Wie lange halte ich es aus, andere zu imitieren? Die Fragen sind letztlich Fragen nach dem Maßstab. Der soll mir in harmonischen Verhältnissen zu Armut und Reichtum anderer stehen. Das ist eine Lebensaufgabe. Ich müsste etwa zwanzig Jahre als Trucker verbringen oder fünf im KZ, um meinen bisherigen Verbrauch an kommerziell produziertem Fleisch auszubalancieren. Will ich nicht, hab ich nicht vor. Harmonie kann man nicht bescheißen, das ist Mathematik. Ich meine ganz konkret, wie in der Akustik so im Leben: gute und rhythmisch wiederkehrende Proportionen erzeugen die Musik. Ich will in einer Gegend leben, wo diese Harmonien zu hören wie zu sehen sind. Wo die gegenseitigen Verpflichtungen mehr konkret als legalistisch empfunden werden, also die Leute ein musikalisches moralisches Verhältnis zueinander haben, wie nach Kropotkins Theorie der gegenseitigen Hilfe, nicht aus Altruismus, sondern aus der Ahnung von der Musik der Welt, die das Reihumgehen von Zuneigungen erzeugt.
In den letzten drei Wochen habe ich zum ersten Mal im Leben eine größere Menge Benzin erworben und verbraucht. Die Verbrauchtheit am eigenen Gesicht gespürt, die das Autofahren in hohem Tempo hinterlässt. Die Unverhältnismäßigkeit dieser Fortbewegungsart mit meinem Ziel, die Wirklichkeit der Gegend zu erfahren, vermeint zu spüren. Ich gelobte, es soll immer griffiger werden, das bedeutet, für alles den passenden Gang zu wählen. Und dennoch bleibt jeder Morgen grau und etwas Ratlosigkeit erweckend.
Die Suhrkamp-Autorin Ann Cotten (34) wurde in Iowa geboren und wuchs in Wien auf. Momentan lebt sie in Berlin und Wien. Im Laufe ihrer literarischen Karriere hat sie das Spiel mit Formen und Genres perfektioniert. Ihr aktuelles Buch »Verbannt« etwa ist ein turbulentes Versepos, von Cotten selbst illustriert. 2017 wird sie mit dem renommierten Hugo-Ball-Preis ausgezeichnet. Dokumentation: Manfred Gram
Weiter zu: Stefan Redelsteiner: Bowie im Jugendzentrum