20 Menschen der heimischen Kulturszene über definierende Momente – Teil 2

20 große Kulturensöhne und -töchter aus dem The-Gap-Umfeld erzählen von einschneidenden Erlebnissen und persönlichen Schlüsselmomenten ihrer Vergangenheit – und Zukunft. Teil 2.

Zukunft | Food

Katharina Unger: Wir sollten Würmer füttern, Schatz!

Katharina Unger © Livin Farms

Etwas war anders als sonst.

Er merkte es beim Aufschauen, sah sich um, graue Couch …

Das Wohnzimmer war wie immer, nur sie fehlte. War sie nicht gerade noch mit ihm auf der Couch gesessen? Hatte ihm von ihrer Arbeit erzählt?

In letzter Zeit war sie ganz verrückt darauf, etwas Neues, Innovatives für ihr gemeinsames Geschäft zu starten.

Er setzte sich auf und streckte sich. Seine Glieder fühlten sich steif an, als hätte er lange geschlafen. Sein Hals war trocken.

Kaffee, er brauchte Kaffee. Das Licht in der Küche war blendend. Er ging automatisch zur Kaffeemaschine. Dort erst hielt er inne.

Die Kaffeemaschine war weg.

Bei näherer Betrachtung fehlten auch der Toaster und der Mixer. Stattdessen stand neben dem Kühlschrank ein quadratischer weißer Turm mit Schubladen, der eindeutig keine Kaffeemaschine war. Schon wieder eine neue? Er schüttelte den Kopf. Luise und ihre Küchenmaschinen.

Ein Summton riss ihn aus seinen Gedanken. Am Esstisch vibrierte ein Handy, das ihm vage bekannt vorkam. War das seines? Er konnte sich nicht erinnern, ein neues gekauft zu haben.

Das Gesicht am Bildschirm war eindeutig Luises. Eine neue Nachricht.

Hast du die Würmer gefüttert?

Er starrte eine Weile auf den Bildschirm. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Dann tippte er eine Antwort. Wo ist die Kaffeemaschine?

Zehn Sekunden, dann ein Brummton.

Du trinkst doch seit Jahren keinen Kaffee mehr? Bitte nimm auch die Ernte von heute heraus und frier sie ein. Kuss!

Paul runzelte die Stirn. Er trank zwei bis drei Espressos am Tag, zu viel für seinen Geschmack. Aber aufgehört hatte er bestimmt nicht. Er hatte auch keine neuen Fotos an den Kühlschrank gehängt und trotzdem waren sie da. Als er näher ging, wurde ihm kalt. Da waren er und Luise am Grand Canyon, dort standen sie am Eiffelturm. Jetzt musste er sich setzen.

Am Grand Canyon war er noch nie gewesen und die Parisreise hatten sie gerade erst geplant. Wie konnten jetzt schon Fotos davon hängen?

Jetzt erst fiel ihm auf, dass an der neuen Küchenmaschine ein grünes Licht leuchtete. Er konnte sich nicht erinnern, sie eingeschaltet zu haben? Wozu auch, er hatte keine Idee, wozu sie diente.

Eine der weißen Schubladen stand einen Spalt offen. Ein silberglänzender Schriftzug verkündete den Namen der Maschine: Hive.

Die oberste Schublade ließ sich leicht herausziehen. Der Inhalt ließ ihn erstarren. Würmer. Er schob die Schublade zu, holte einmal tief Luft und probierte eine andere Lade.

Darin waren die Würmer kleiner. Hm, irgendwie niedlich, dachte er sich.

Darunter fand er Käfer, irgendwie roch es wie Müsli, sie aßen schließlich Haferflocken. Der Hive schien Würmer zu züchten, zu füttern und … zu ernten?

War Luise jetzt völlig verrückt geworden? Mit einer Vorahnung öffnete er den Kühlschrank. Darin standen drei durchsichtige Dosen, säuberlich beschriftet. Die Handschrift stach ihm sofort ins Auge.

Das waren seine Buchstaben, seine Art, das Datum auf amerikanische Art zu schreiben. Er hatte diese Dosen beschriftet. Und er glaubte zu wissen, was er darin finden würde.

Nacheinander öffnete Paul die Dosen. Er fand Chilli con Carne, wie er es immer kochte, nach Lorbeer duftend und mit einer einzelnen Chillischote. Nur das Fleisch fehlte.

Stattdessen hatte er die Würmer aus der Maschine genommen, daran bestand kein Zweifel. Er zögerte. Das war seine Handschrift. Er hatte dieses Chilli gekocht. Und jetzt würde er es probieren.

Unglaublich! Die Würmchen zergingen ihm wahrlich auf der Zunge. Eine leicht nussige Note, die hervorragend zum feinen Lorbeer passte. In der anderen Dose eine Variante seines berühmten Eiaufstriches!

Ganz klar waren da kleine knusprige Würfelchen an Wurm drin. Paul nahm einen großen Finger voll von der Paste. Er musste schmunzeln. Das kam ihm dann doch absurd vor, wie selbstverständlich er das gerade gemacht hatte.

In der letzten Dose war eine in Butter, Honig und Meersalz geröstete Variante dieser Wurmdinger. Das machte er normalerweise mit den Mandeln, die er oft am Samstag vom Naschmarkt holte. Lecker.

Und dazu kein Kaffee. Na toll.

Er krallte sich die Dose und sank auf die Couch.

Eine Stimme aus dem Off. Hast du mir überhaupt zugehört?

Er sah auf.

Graue Couch, Licht gedimmt. Ihre großen grünen Augen. »Ich glaub’s nicht“, sagte sie. »Ich plane hier meine Zukunft. Unsere Zukunft! Und du schläfst ein? Ich wollte doch mit dir brainstormen, womit wir kochen könnten, für die Kochschule.

Ich glaub, wir brauchen dafür etwas Neues, Gesundes, etwas das Potenzial hat und nachhaltig ist.«

Gänsehaut auf seinen Oberarmen. Der Blick zum Kühlschrank. Dann sofort zur Kaffeemaschine. Puh, Gott sei Dank, noch da.

Er lächelte kurz in sich hinein »Schatz«, sagte er. »Ich denke, du solltest Würmer nehmen. Würmer sind gut. Würmer sind die Zukunft!«

 

Katharina Unger ist Industriedesignerin und Gründerin von Livin und Livin Farms, letztere bekannt für den »Livin Farms Hive«, eine Farm für die Mehlwurmzucht, um in den eigenen vier Wänden Mehlwürmer zum Verspeisen zu züchten. Katharina ist momentan in Südchina, um die erste Produktionsreihe des über Kickstarter und Vorbestellungen finanzierten Hive zu veranlassen. livinfarms.comDokumentation: Thomas Weber

Hier geht es zu Teil 1.

Mehr zu 20 Jahre The Gap findet ihr hier.

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