20 Menschen der heimischen Kulturszene über definierende Momente – Teil 2

20 große Kulturensöhne und -töchter aus dem The-Gap-Umfeld erzählen von einschneidenden Erlebnissen und persönlichen Schlüsselmomenten ihrer Vergangenheit – und Zukunft. Teil 2.

Vergangenheit | Netzkultur

Marie Ringler: Und dann kam das geheimnisvolle Internet

Marie Rinlger,Europachefin von Ashoka © David Payr

Während ich das schreibe, schaue ich auf Neufundland. Ich habe die Vorstellung, dass die Welt größer wird, wenn man im Flugzeug einen Ozean überfliegt. Etwas an dem weiten Wasser, den Schaumkronen lässt den Blick schweifen, der Horizont breitet sich vor einem aus. Wird dann die Welt größer oder nur der Horizont?

Mit zwölf lag ich in den Ferien oft auf dem Sofa und las die Bücher meiner Großmutter über das alte Ägypten. Geheimnisvolle Pharaonen, gefährliche Entdeckungsreisen, rätselhafte Schriftzeichen. In diesen Momenten war die Welt groß und der Wüstenhorizont weit.

Im Studium interessierte mich mehr, warum Wissenschaft und in welcher Form betrieben wurde, als was sie herausfand. Ich bohrte tiefe Löcher in den Horizont und die Welt. Ich wollte ja schließlich wissen, wie sie funktioniert. Ich wollte volkswirtschaftliche Gleichungen verstehen und warum wir Energie in manche Bereiche des Lebens, unserer Existenz auf Erden investieren und in andere gar nicht und damit Ungleichheit schaffen und verstärken. Das Wasser des Ozeans wurde dunkler und tiefer und die Wellen höher. Nichts war mehr ganz einfach.

Und dann kam das geheimnisvolle Internet. Plötzlich war scheinbar alles da. Alles möglich. Mit Public Netbase brachten wir den ersten nichtkommerziellen Internetprovider ins Leben. Jedem seine Email-Adresse. Webspace für alle. Jeder kann veröffentlichen. Krokodile fielen in Netscape 1.0 vom Himmel, alle konnten nun alles sagen, alles schreiben, alles lesen. Nicht mehr nur der Horizont, nun war der Rand des Universums zum Greifen nah.

Wenn nur alle Zugang hätten, dann würde alles gut werden. Kinder in Afrika mit Laptops, Flüchtlinge mit GPS-Ortung, politische Aktivisten mit Handy-Kameras. Wenn dann alle alles sehen und lesen könnten, dann würde die Welt wieder weniger unübersichtlich. Besser. Und gerechter.

Heute, auf der Fahrt zum Flughafen, erklärte mir mein Taxifahrer, warum Donald Trump ein Opfer der Medien ist, wie Jörg Haider vom Mossad ermordet wurde und die letzte Bundespräsidentenwahl von geheimen Mächten manipuliert wurde (»Sie wissen schon, darf ich ganz offen sprechen? Die Juden!«). Manches von dem, was er sagte, hatte ich genauso am Vortag auf Facebook gelesen. Die wunderbaren Algorithmen unserer Leseempfehlungen und »Videos, die Sie auch interessieren werden« ziehen ihre Spuren.

Und trotzdem, der Horizont ist größer, weiter, heller geworden. Die Welt ist durchsichtiger, verständlicher, kleiner geworden.

Marie Ringler ist Europachefin von Ashoka, der weltweit größten Organisation zur Förderung von Social Entrepreneurs in mehr als 85 Ländern der Welt, die mit innovativen Ideen gesellschaftliche Probleme lösen. Sie baute in den 90er Jahren Public Netbase/t0 (www.t0.or.at) mit auf. Nach zehn Jahren als Landtagsabgeordnete in Wien, vielen Aktionen gegen Überwachung und mehreren von ihre geschriebenen Innovationsprogrammen verließ sie 2010 die Politik und baute Ashoka zuerst in Österreich, dann in Zentral- und Osteuropa auf. Ashoka unterstützt auch zahlreiche Social Entrepreneurs im Bereich freies Internet, Privacy und digitale Menschenrechte. ashoka.org
Dokumentation: Thomas Weber

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