Frisst die Vinylkrise den Underground? – 25 Fragen zur Gegenwart (13/25)

Schallplatten sind beliebter denn je. Das wird dann zum Problem, wenn die globalen Herstellungskapazitäten nicht mehr ausreichen und jene durch die Finger schauen, die die Liebe zu Vinyl in den letzten Jahrzehnten gepflegt haben: kleine, unabhängige Artists.

© Lukas Weidinger

160 Millionen Schallplatten. So viel schwarzes Gold lässt sich in einem Jahr weltweit herstellen. Das Problem: Die Leute wollen mehr. Viel mehr. Auf bis zu 400 Millionen Stück schätzen manche Expert*innen der Musikbranche die globale Nachfrage – eine Zahl, die mit den aktuellen Möglichkeiten nicht zu erreichen ist. Während die Deluxe-Version von Adeles neuem Album die Regale in Mediamarkt-Filialen verstopft oder die achtundzwanzigste B-Seiten-Veröffentlichung von einer Elton-John-Platte den Record Store Day schmackhaft machen soll, warten »kleine Punkbands über zehn Monate auf ihren Release«. Sagt zumindest Jack White.

Der ehemalige Sänger der White Stripes betreibt in Detroit seit Jahren ein Presswerk für Schallplatten. In einem Video, das er Mitte März auf Youtube teilte, sagt er: »Es geht nicht um große Labels gegen kleine Labels, es geht nicht um Independent gegen Mainstream, es geht nicht einmal um Punk gegen Pop. Das Problem ist einfach, dass wir alle ein Umfeld geschaffen haben, in dem die beispiellose Nachfrage nach Vinyl-Schallplatten nicht mit dem rudimentären Angebot Schritt halten kann.«

Der »Seven Nation Army«-Guy mit den blau gefärbten Haaren trifft einen Punkt. Wir kaufen wieder Schallplatten. So viele, dass sich aus einem Hype in den letzten Jahren ein neuer Markt entwickeln konnte. Allein in Österreich gaben Menschen im Jahr 2021 über 10 Millionen Euro für Platten aus. Das entspricht über 400.000 Vinylscheiben. Verkaufszahlen, die die Branche zuletzt in den späten 80er-Jahren erreichen konnte.

Erschwerte Planung

In Umfragen geben fast 50 Prozent der Käufer*innen an, die Platte kein einziges Mal zu spielen, weil sie gar keinen Plattenspieler besitzen. Dem Markt ist aber egal, ob die Jubiläumspressung von Nirvanas »Nevermind« am Teller landet oder an der Wand einer Altbauwohnung im siebten Bezirk. Lifestyle ist Lifestyle. Kein Wunder, dass das auch die Majors Sony, Universal und Warner mitbekommen – und mit Riesenauflagen von Evergreens die Presswerke überlasten.

Das bringt viele Nachteile mit sich. Vor allem für kleinere Labels, die neue Musik auf Vinyl veröffentlichen wollen. Man müsse vorausschauend planen, heißt es aus den Independent-Zirkeln der österreichischen Musikszene. Die Wartezeiten seien zum Teil enorm. Wenige Monate? Inzwischen die Ausnahme! Oft dauere es ein halbes Jahr oder länger, bis die fertige Pressung geliefert wird – kurzfristig lasse sich dadurch jedenfalls kein Vinylrelease umsetzen.

Einer, der offen über das Problem spricht, ist Chrisfader vom österreichischen Hip-Hop-Label Duzz Down San. Er war zuletzt an mehreren Vinylproduktionen des Labels beteiligt. »Wir hatten bei unseren Releases 2021 noch Glück mit den Wartezeiten, sind angesichts der aktuellen Situation aber froh, dass momentan keine Pressungen bei uns anstehen.« Für Independent-Künstler*innen sei es schließlich unmöglich, eine Veröffentlichung so lange zu verschieben. »Natürlich hoffen wir, dass sich die Lage bald wieder entspannt. Bis es so weit ist, kann man sich nur den Gegebenheiten anpassen und abwarten – oder ganz auf Vinyl verzichten.«

Düstere Aussicht

Eine echte Alternative ist das nicht. Zumal Vinylveröffentlichungen in manchen Musikgenres immer noch als Ausweis von Qualität durchgehen. Als DJ zeigt man sich gern vor ausstaffierten Ikea-Regalen, legt schon mal »vinyl only« auf, oder baut drei, vier Platten mit ins Set ein, um zu zeigen, dass man nichts mit Sync-Button-Warriors zu tun hat.

Außerdem lässt sich Vinyl im Vergleich zu einem File auf einem USB-Stick tatsächlich angreifen – und damit herzeigen. Wenn es darum geht, die Instagrammability zu fördern, ist Materialität kein Nachteil. Das weiß auch Lucas Farr. Der Wiener Produzent veröffentlicht auf internationalen Labels wie Lobster Theremin aus London oder Out of Sorts aus Bristol. Auf den Release seiner letzten Platte wartet er inzwischen fast ein Dreivierteljahr. Die Situation mit den Presswerken sei zum Kotzen. Große Plattenfirmen ließen »das ›Lion King‹-Musical in dreihunderttausendfacher Auflage produzieren, die dann weltweit in den Läden stehen soll«. Als kleines Label mit 200er-Auflagen habe man dadurch keine Chance. Dabei sei der Markt dafür da. »Baut’s Plattenpressen, das kann doch nicht so schwer sein«, so Farr.

Tatsächlich gibt es weltweit nur ungefähr 100 Presswerke für die Vinyl-Produktion. Die genaue Zahl lässt sich nicht festmachen. Allerdings wird vermutet, dass nur ein Zehntel davon – die meisten innerhalb Europas – die Kapazitäten für große Aufträge habe. Wenn mittlerweile sogar Superstars wie Taylor Swift, Ed Sheeran oder Adele mehrere Monate auf die Veröffentlichung ihres Albums auf Vinyl warten müssen, heißt das: In der Plattenindustrie läuft etwas gehörig schief. Der Markt hat sich selbst gefressen. Das Geschäft geht sich, zumindest für 99 Prozent des Indie-Undergrounds, nicht mehr aus. Dadurch werde nicht nur die Situation für Labels, Künstler*innen und Plattenläden drastischer. »Auch der Ton wird rauer«, so Kristoffer Cornils.

Der Berliner Journalist hat sich zuletzt ausgiebig mit der »Vinylkrise« auseinandergesetzt und meint: »Die für die Vinylkrise des Jahres 2021 vermeintlich Schuldigen werden identifiziert und an den Pranger gestellt. Wahlweise konzentriert sich die Wut auf Kampagnen wie den Record Store Day, der über die vergangenen Jahre Pressrhythmen durcheinandergebracht hat. Oder es wird auf die Majors geschimpft. Und natürlich wird die Schuld auch auf die Presswerke geschoben.« Schließlich würden sie große Kund*innen mit größeren Auflagen bevorzugen, weil sich mit ihnen das meiste Geld machen ließe, so Cornils. Und: Vinyl werde für kleinere Labels und Künstler*innen mittelfristig keine rettende Einnahmequelle mehr sein.

Keine guten Aussichten für Artists, die der Schallplatte über die Jahre die Treue hielten, während sich große Firmen ins gemachte Geschäft legen. Jack White wendet sich deshalb in seinem Video an Sony, Universal und Warner, seine »kollegialen Brüder in der Musikwelt«, um sie mit einer Forderung zu konfrontieren: »Baut den bedauerlichen Rückstand ab und stellt selbst Ressourcen für den Bau von Presswerken bereit.« Wir werden sehen, was sie davon halten.

Die dreiteilige Artikelserie zur Vinylkrise von Kristoffer Cornils und Thaddeus Herrmann findet sich unter www.dj-lab.de. Jack Whites Lagebericht trägt auf Youtube den Titel »A Plea to the Three Global Major Labels from Jack White«.

Anlässlich unseres 25-Jahr-Jubiläums haben wir uns in The Gap 192 »25 Fragen zur Gegenwart« gestellt. Dieser Beitrag beantwortet eine davon.

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