Flanieren und nachdenken im Online-Shooter – Interview mit dem Kollektiv Total Refusal zu »Operation Jane Walk« und »How to Disappear«

Ein Stadtspaziergang durch das postapokalyptische New York in den Architekturen des Online-Shooters »The Division«; Fragen der Kriegsverweigerung anhand der Kulisse und des Regelwerks von »Battlefield V« – das Kollektiv Total Refusal, eine »pseudomarxistische Medienguerilla«, zweckentfremdet die digitale Kampfzone für seine Kunst und Reflexionen. Die Kurzfilme »Operation Jane Walk« und »How to Disappear« sind neu in der Cinema Next Series kostenlos zu streamen. Wir haben das Kollektiv zum Interview gebeten.

© Total Refusal

»Operation Jane Walk« und »How to Disappear« sind die nächsten Veröffentlichungen in der Cinema Next Series, die regelmäßig auf der Streamingplattform Kino VOD Club kostenlos spannende Filme von heimischen Filmtalenten präsentiert.

Total Refusal: Robin Klengel, Michael Stumpf und Leonhard Müllner (v. l.) © Diagonale / Sebastian Reiser

Cinema Next: In euren eigenen Worten: Worum geht es in »Operation Jane Walk« und »How to Disappear«?

Total Refusal: Beide Filme sind Interventionen in Videospiele, die die Spielweise, das »Gameplay«, gegen den Strich bürsten. Dabei werden Regeln gebrochen, etwa indem man – es handelt sich um Shooter-Spiele – nicht schießt, vor dem Krieg davonläuft oder andere beim Kämpfen stört. In beiden Filmen handelt es sich um eine oder mehrere Online-Performances, die in kriegerischen Settings aufgeführt werden. Dabei wird die Spielewelt mit einer ganz anderen Narration versehen – wir recyclen also diese Millionen Euro teure Kulisse und missbrauchen sie zur Diskussion von Themen, die uns wichtig sind. »Operation Jane Walk« ist eine Architektur- und Urbanismusführung durch die Stadtkulisse eines Online-Shooter-Games (»Tom Clancy’s The Division«) und »How to Disappear« erzählt die Geschichte des Ungehorsams und der Fahnenflucht im Zweiter-Weltkrieg-Setting von »Battelfield V«.

Was war Ausgangspunkt für die Filme: Eine Leidenschaft fürs Gamen oder eine Auseinandersetzung mit Fragen, die die Spiele aufwerfen?

Der Ausgangspunkt ist die Faszination fürs Gamen. Aber eine Hassliebe für dieses Medium treibt uns an, denn es leidet unter dem Druck des Geldes, wie eben alle Medien, in denen große Budgets verhandelt werden. Da werden atemberaubende Welten einer gefälligen Erzählung und eindimensionalen Charakteren aus der Retorte geopfert. Wir möchten als pseudomarxistische Medienguerilla dieses Milliarden-Dollar-Massenmediums mit unserem politischen humorvollen Agitprop befüllen. Wir wollten in dieser sozialen Lebensrealität des Computerspiels Kunst entwickeln, performen, musizieren und sie eben von innen heraus auch kritisieren. Und wir wollen ihre Schönheit der gamefremden Kunst- und-Kulturszene unter die Nase halten, die zwar auf Netflix ihre Guilty-Pleasure-Bedürfnisse auslebt, aber beim Massenmedium Videospiel oft eitel die Nase rümpft.

Wie kann man sich das Entstehen dieser Filme vorstellen?

Unsere Ideen kommen während des Spielens. Seltener suchen wir ein Setting für eine Idee. Wir treiben immer Unsinn, wenn wir spielen, Hunderte Stunden lang wird gezockt, dazwischen werden Oberflächen und Erzählungen dekonstruiert. Momentan ist es so, dass Total Refusal größer geworden ist und wir mehr Zeit mit dem Konzipieren, dem Abarbeiten der leidigen Kunstbürokratie oder dem Filmen verbringen als mit dem Spielen selbst.

»Operation Jane Walk« entstand als popelige Stadtführungsperformance. Die Kamera ist miserabel. Wir haben von diesem eineinhalbstündigen, im Nähzimmer von Robins Mutter aufgenommenen »Jane Walk« dann rasch 16 Minuten zusammengeschnitten und versuchshalber bei der Diagonale in Graz eingereicht. Das auch nur deshalb, weil man einen Festivalpass bekommt, wenn man einreicht. Und die waren begeistert. Wir sind mit dem Film bei über 100 Festivals gelaufen, haben 20 Preise gewonnen und die Leute nennen uns jetzt Filmemacher. Absurd alles. Bei »How to Disappear« war das schon alles professioneller: mit dem Filmbetrieb Lemonade Films, einer unfasslichen Soundmischung von Bernhard Zorzi, Musik unserer Inhouse-Komponistin Adina Camhy. Und Hunderte Stunden Dreh, anstelle von zwei Stunden bei »Operation Jane Walk«.

»Operation Jane Walk« als 60-minütige Online-Live-Performance: Robin Klengel und Leonhard Müllner (rechts) 2019 bei der EMAP – European Media Art Platform in Utrecht © Lemonade Films

Beide Filme werden bei Filmfestivals oft als Dokumentarfilme kategorisiert. Wie seht ihr diese Zuschreibung?

Diese Auszeichnung ist eine Fremdzuschreibung, die uns ehrt. Unsere Filme laufen auf Menschenrechtsfilmfestivals, Architekturkongressen, in Gedenkstätten, bei Animations- und Jugendfilmfestivals. Es gibt bei Festivals noch keine Sparte, die »Medienguerilla« heißt. Deshalb tanzen wir auf unterschiedlichen Hochzeiten und das schmeichelt unserem multidisziplinären Ansatz.

Wir haben ja auch eine hauseigene kollektivinterne Theoriemühle, die heißt Totally Pretentious, benannt nach einem Online-Kommentar, den jemand unter »Operation Jane Walk« gepostet hat. Von dort aus verschriftlichen wir die Erkenntnisse, die während des Spielens und der Filmproduktion entstehen, und beliefern damit zum Beispiel periodisch das Magazin Malmoe – vielleicht auch bald The Gap? – mit unserem pseudomarxistischen Heurismus. Wir lieben den Text, die Erzählung, möchten einen narrative turn in der Kunst und auch im Film unterstützen. Der Dokumentarfilm scheint hier eine ideale Spielwiese anzubieten.

Die Stadtführung durch New York in »Operation Jane Walk« führt auch am Trump Tower vorbei. © Total Refusal

Machinimas, also Filme, die mit Hilfe von Spiele-Engines inszeniert werden, waren in den Nullerjahren sehr präsent. Danach wurde es um dieses Genre etwas ruhiger. Täuscht dieser Eindruck?

Nein, das ist wahrscheinlich eine stimmige Beobachtung. Ohne jetzt die Filmgeschichte der Machinimas allzu genau zu kennen, gab es in den 1990ern noch einige Titel, die ihre Engines frei zugänglich machten. »Counter Strike«, das sich 1999 aus »Half Life« entwickelte, bezeugt diesen freien Zugang zur Software. Durch die eruptive Kommerzialisierung des Mediums folgten die Spiele dann immer mehr der verblödeten Logik des geizkranken Nichtteilens. Dadurch wurde der Zugang für Experimente immer schwieriger und prekärer.

Erst mit der hyperrealistischen Darstellung von Pastiches, also einer Spielegrafik, die Welten erschafft, die unseren präzise nachempfunden sind und diese übertreffen, erinnerten sich viele Kunstschaffende und Filmemacher*innen an die Präsenz des Mediums. Wir reden hier konkret von »GTA V«. Vermutlich kein Spiel in der Geschichte dieser Industrie wurde öfters für Kunst und Film umgenutzt. Und natürlich hat das auch mit der Modding-Kultur zu tun. Durch Mods (Modifikationen) kann man die Regeln ändern, die Texturen verfremden und auf das ganze Repertoire des Mediums zurückgreifen, das nützen dann natürlich auch Kunst- und Filmschaffende gern. Man darf aber die Kreativität der Gaming-Community nicht unterschätzen. Deren Eingriffe stehen in manchen Fällen denen der in Akademien ausgebildeten Bilderproduzent*innen um nichts nach.

Desertierversuche im Kriegsspiel: Filmstill aus »How to Disappear« © Total Refusal

Ihr holt euch neue Freiheiten in einer eigentlich von vorne bis hinten durchkontrollierten und mit klaren Regeln definierten Spieleumgebung. Welches Potenzial hat diese Manipulation oder diese Umcodierung sowohl in künstlerischer wie vielleicht auch gesellschaftlicher (oder gar aktivistischer) Sicht?

Wir lieben diese Frage, weil sie den nuklearen Kern unseres ideologisch-künstlerischen Apparats berührt. Mainstream-Titel, die in ihrer Entwicklung über 200 Millionen Dollar gekostet haben und wie »GTA V« eine Milliarde Dollar einnehmen, sind die Posterboys der kapitalistischen Unterhaltungsindustrie. Die politische Ideologie des Kapitalismus ist der Liberalismus, der sich, wie Mark Fisher beschreibt, unpolitisch, also pragmatisch und realistisch gibt, sich daher ideologisch verunsichtbart. Unter den glänzenden Texturen des Hyperrealismus aber versteckt sich genau das von vielen »Lead Developers« verneinte Politische.

Wie die Bücher und Kassetten unserer Kindheit prägen diese Texturen die Jugendzimmer einer heranwachsenden Gesellschaft. Die Spieleindustrie hat leider lange vergessen, wie einst die Zigarettenindustrie, dass es Frauen gibt auf dieser Welt. Oder dass gewisse Erzählungen einem gesellschaftlichen Konsens folgen, der in der Geschichte verübte Gewalt legitimiert. Oder dass Reichtum als erstrebenswert gilt. Wenn wir intelligenten Blödsinn machen in diesen Spielen, können wir vielleicht mit dem richtigen Voiceover oder ästhetischen Brüchen diese Leerstellen ausleuchten. Das ist doch unsere Aufgabe als kreative Pseudointellektuelle.

»Operation Jane Walk« habt ihr, Robin und Leonhard, zu zweit realisiert. Bei »How to Disappear«, den ihr unter dem Kollektivnamen Total Refusal veröffentlicht habt, ist Michael dazugekommen. Woher kennt ihr euch?

Michael haben wir im Weltkriegssimulator »Company of Heroes 2« kennengelernt, wo er vorzugsweise die Deutschen gespielt hat. Aber sonst hat es sehr gut gepasst zwischen uns, auch politisch. Michael ist, um es mit Hamlet zu sagen, »born to set it right«. Er kompensiert viele der durch uns vorhandenen Unzulänglichkeiten.

Prinzipiell teilen wir aber die Leidenschaft für Film, Videospiele, Theorie und Politik. Mittlerweile haben wir unser offenes Kollektiv verdoppelt, mit Susanna Flock, Jona Kleinlein und Adrian Haim. Und haben eine Miniarmee an Kollaborateur*innen wie die Inhouse-Musikerin Adina Camhy, die wir zu unserem Team dazuzählen. Wir möchten eine Community aufbauen, auch mit anderen Game Artists und Theoretiker*innen, aber auch Menschen aus anderen Bereichen, die das kritische und ästhetische Potenzial mit uns gemeinsam nutzen wollen.

Welches sind eure Lieblingsszenen in den beiden Filmen und warum?

In »Operation Jane Walk« ist es vermutlich die Szene, bei der wir geduckt hinter einer Barrikade stehen und trotz des heftigen Maschinengewehrfeuers über die Geschichte von Pan Am Airlines und vom modernistischen Wolkenkratzer des Met Life Buildings reden. Bei »How to Disappear« lieben wir jene Szenen, bei denen wir mit anderen Spieler*innen interagieren – sie oft aber auch sekkieren – und versuchen, diese vom Kriegspielen abzuhalten. Das ist auch dann noch lustig, wenn man den Film wirklich sehr oft gesehen hat. Humor ist die Lingua franca über unsere Bubble hinaus, wo wir jene Menschen erreichen wollen, die weder mit Games noch mit Kunst etwas zu tun haben.

Eine Interview-Reihe in Kooperation mit Cinema Next – Junges Kino aus Österreich.

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