Teilweise haben die Lichtspielhäuser zwar wieder geöffnet, doch der Kinogenuss ist durch die COVID-19-Maßnahmen deutlich eingeschränkt und bis zum Normalbetríeb wird wohl noch einiges an Zeit vergehen. Zur Überbrückung bietet sich das Buch »Kino Welt Wien. Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte« als cineastisches Trostpflaster an.
Bei meinem letzten Kinobesuch unmittelbar vor dem Shutdown (12. März, »Die Dohnal«), galt die Maßnahme, dass höchstens 100 Menschen im Saal sein durften und je ein Platz zwischen den BesucherInnen frei bleiben musste. So viele Menschen wollten den Film an diesem Abend in diesem Kino aber ohnehin nicht sehen. Geplant war zudem ein Besuch der Ausstellung »Kino Welt Wien. Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte« im Metro Kinokulturhaus – was mir bis heute nicht gelungen ist. Die Ausstellung ist ansatzweise auch online zu besichtigen und feierte nach dem Shutdown am 1. Juni Wiedereröffnung.
Ein Zeitreisegenuss
Ganz ohne Einschränkungen hingegen war – und ist – der gleichnamige, wuchtige Ausstellungskatalog verfügbar. Lassen wir das Textliche vorerst beiseite und betrachten das reichhaltige Bildmaterial. Diese Zeitreise – ein Genuss! Über 300 Abbildungen in Farbe und Schwarz-Weiß aus fast 125 Jahren Wiener Kinogeschichte zeigen historische Innen- und Außenaufnahmen von Kinos, Vorführräumen, Foyers, Sälen, Bars und Buffets. Ein Highlight ist die Fotostrecke mit Kinoansichten aller 73 1980 in Wien existierenden Kinos. Wir sehen Eintrittskarten, Film- und Werbeplakate, Inserate und Spielpläne, Reklamedias etc. etc. Diese Buntheit! Diese beeindruckenden Kontraste bei Schwarz-Weiß-Aufnahmen! Und was es auf diesen historischen Fotos alles zu entdecken gibt: diese Mode, diese Autos!
Ein erster Beitrag beschäftigt sich äußerst kurzweilig mit der Geschichte des Kinos in Wien. Einige Eckdaten: 1896 waren in der Stadt erstmals bewegte Bilder zu sehen, um 1905 entstanden erste ortsfeste Kinos. Nach dem Ersten Weltkrieg besaß Wien bereits 155 davon. 1929 feierte der Tonfilm Premiere, Mitte der 1930er-Jahre kamen Filme in Farbe auf – auch wenn diese bis nach dem Zweiten Weltkrieg noch selten blieben. Die Wirtschaftswunderjahre, insbesondere der Fernseher, setzten dem Kino arg zu, später entstanden die Multiplex-Häuser, vornehmlich am Stadtrand. Das Ergebnis ist für alle, die mit offenen Augen durch die Stadt gehen, sichtbar: Kinos sind rar geworden.
Alles, was dazugehört
Das Buch bietet im Folgenden keine lineare Wiener Kinogeschichte, was es dezidiert auch gar nicht will. Wer sucht, findet dennoch genug Anhaltspunkte in den Texten, um sich einen Überblick über die Historie in Zahlen, Daten und Fakten zu verschaffen. In verschiedenen Essays diverser AutorInnen offenbart sich ein Kaleidoskop, das Kino und alles, was dazugehört, von unterschiedlichen Seiten betrachtet und Aspekte aufzeigt, die normale KinobesucherInnen möglicherweise gar nicht beachten würden.
Ein paar Beispiele: Ein Beitrag beschäftigt sich mit dem Kinoarchitekten Robert Kotas, der in Wien 37 Kinos errichtet oder umgebaut hat. Sein einziger vollständig erhaltener Kinobau ist das 1960 eröffnete Wiener Gartenbaukino, das letzte große Einsaalkino Wiens – eine herrliche Zeitkapsel. Wir erfahren über den – aus heutiger Sicht lächerlich anmutenden – Kampf der Rechten, der Linken und der katholischen Kirche, von Unterschriftenaktionen und Demonstrationen gegen den (vermeintlichen) Schmutz- und Schundfilm in der Nachkriegszeit.
Ein Artikel beschäftigt sich mit den dunklen Jahren 1938 bis 1945, in denen das Regime die Kinos zum rundum überwachten Propagandainstrument umgestaltete. Rund 50 % der Wiener Kinos standen 1938 im jüdischen (Teil-)Besitz, alle von ihnen wurden »arisiert«. Die mangelhafte Rückgabepraxis an die ehemaligen BesitzerInnen und deren NachfahrInnen – sofern sie noch lebten – war nach dem Krieg kein Ruhmesblatt der jungen Republik. Der Autor des Beitrags hat mit »Angeschlossen und gleichgeschaltet. Kino in Österreich 1938–1945« eine umfassende Studie über diesen Zeitabschnitt verfasst.
Die Bedeutung des Lichts
Wir lesen über KinoplakatgestalterInnen, die Funktionalität der Innenarchitektur von Kinos im Lauf der Zeit und die Bedeutung des Lichts (Neonreklame, Lichtkästen mit austauschbaren Buchstaben für Filmankündigungen) im Außenauftritt des Kinos. Wir erfahren über die Rolle des frühen Kinos für Frauen als Rückzugsort und zur Freizeitgestaltung. Zudem waren auf den Leinwänden plötzlich erstmals öffentlich unterrepräsentierte Berufsgruppen (Arbeiterinnen, Dienstbotinnen, …) zu sehen. Kino bot außerdem ein geschäftliches Betätigungsfeld für Frauen, die in Wien zeitweise auffällig viele Kinos besaßen und/oder als Geschäftsführerin führten. Und so weiter und so fort.
»Kino Welt Wien« ist informativ, fundiert, kurzweilig zu lesen und ein optisches Vergnügen. Das Medium hat schon bessere Zeiten erlebt: Die allermeisten der gezeigten Kinos sind mittlerweile aus dem Stadtbild verschwunden. Dieses Buch setzt ihnen ein Denkmal.
P.S.: Wer seine Kinosuche auf das Wiener Umland ausdehnen möchte: Zum einen hat das Autokino in Groß-Enzerdorf nach einigen Jahren Sperre soeben wiedereröffnet. Zum anderen findet sich im Buch »Verschwundene Kinos im Weinviertel« ein geografisch-ideelle Ergänzung zum besprochenen Werk.
»Kino Welt Wien. Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte«, herausgegeben von Martina Zerovnik, ist im Verlag Filmarchiv Austria erschienen. Die Ausstellung »Kino Welt Wien« ist noch bis 10. Jänner 2021 im Metro Kinokulturhaus zu sehen. Im Rahmen des Sommerkinos »Wien wie noch nie« (von 9. Juli bis 16. August) ist sie zudem – bei freiem Eintritt – als Pop-up im Wiener Augarten zu Gast.