Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im Juli 2020

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

© This Charming Man
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Reiz – »Das Kind wird ein Erfolg«

Reiz © Spastic Fantastic
© Spastic Fantastic

Ob der ambitionierte Titel in Erfüllung geht, muss man naturgemäß abwarten, die Voraussetzungen sind aber wie gemalt für die Dreier-Format Reiz aus Mannheim, die bereits ihr zweites Album in die Regale der Szene-Supermärkte stellt, denn – so heißt es im gleichnamigen Song –: »Das Kind wird ein Erfolg / Weil du weißt, wo es herkommt«: Knackiger, aber gleichzeitig sehr garagiger Punk-Rock, der mit der frühen Historie des Genres gekonnt spielt, dazu eine Laufzeit von knapp 21 Minuten, neun Stücke, die teilweise angereichert werden mit Zitaten von Kleist bis Nietzsche und noch dazu ist das Dortmunder Label Spastic Fantastic ein angesehener Katalysator für Trends im modernen Punk. Neben der musikalischen Eingänglichkeit, die zwischen Haudrauf und Sphärischem wabert, und dem authentisch vermitteltem DIY-Faktor wissen auch die Texte zu überzeugen, auch hier finden sich mitunter amüsante Verweise auf die Punk-Geschichte: »Du hast mich weggezappt auf deiner Dating App / und gesagt, das wird nix mit uns beiden / dabei kenn ich die Leute von Hammerhead / und ich glaub, auch sie können mich leiden». Sehr cool!

»Das Kind wird ein Erfolg« von Reiz erscheint am 10.7.2020 via Spastic Fantastic. Keine Österreich-Termine zurzeit.

Pogendroblem – »Ich–Wir«

© This Charming Man
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Dass sich der späte Kapitalismus immer weiter in Widersprüche verstrickt, ist ziemlich offensichtlich. Er überträgt seine Widersprüchlichkeiten auch auf die ihm unterworfenen Individuen: Individualistisches Profitieren unter dem Deckmantel der Quasi-Solidarität. Kollektives Gebaren für Verbesserungen und parallele Neidgesellschaften. Dem Zwiespalt der Gesellschaft, vor allem in (vermeintlich) linken Strukturen, widmet sich die fantastische Gruppe Pogendroblem aus Bergisch-Gladbach, die sich im Spannungsfeld von Indie-Punk, Deutschpunk und Noise bewegt, bereits seit geraumer Zeit – man kennt vielleicht das Album »Erziehung zur Müdigkeit« aus 2018. Auf der nun erscheinenden Doppel-EP »Ich–Wir«, dessen B-Seite bereits 2016 als EP »Raus« veröffentlicht wurde, geht noch einen Schritt weiter und diskutiert mögliche gesellschaftliche Utopien. Klarer und logischer Feind ist nicht nur das kapitalistische System, sondern auch die ihn reproduzierende Lohnarbeit, eindrucksvoll etwa dargestellt im Hit »Foucault im Großraumbüro« oder auch im anderen Hit »Wir«. Außerdem höchst empfehlenswert: Der Doku-Film »Auf der Suche nach Der Utopie«, auf dem auch befreundete KünstlerInnen wie Akne Kid Joe, Deutsche Laichen und andere zu Wort kommen.

»Ich-Wir« von Pogendroblem erscheint am 31.7.2020 via This Charming Man. Keine Österreich-Termin derweil.

Friedemann Weise – »Das weise Album«

© Philipp Boell
© Philipp Boell

»Friedemann Weise? Ist das nicht dieser…«. So ähnlich könnten auch Sie reagieren. Vorausgesetzt, Sie haben schon alle Videos von John Oliver und Jan Böhmermann auf YouTube gesehen und wurden vom Algorithmus zur etwas spießbürgerlichen Variante, der »Heute Show« weitergeleitet: Dort tritt dieser Weise gerne als musikalischer Zappelphilipp auf, der große Zusammenhänge banalisiert, aber immer amüsant für das Publikum aufbereitet. Für seine nun erscheinende vierte LP »Das weise Album«, das erste seit acht Jahren – 2012 erschien »Friede allein zu Haus« –, hat er sich mit allerhand Indie-Prominenz zusammengetan: Unter anderem mit Albrecht Schrader, Björn Sonneberg (Locas in Love) und Nicolas Epe, der etwa The Screenshots produziert hat. Auch dementsprechend klingt das Album recht gut, der poppige Anti-Folk, der gerne auch scheinbare Ballade und Synths aufschnappt, bohrt sich gewissenhaft in die Gehörgänge, der textliche Humor ist allerdings größtenteils Geschmackssache und häufig ziemlich clownesk (»Der Kaffeemann«).

»Das weise Album« von Friedemann Weise erscheint am 31.07.2020 via Staatsakt/Bertus/Zebralution. Keine Österreich-Termine.

Albrecht Schrader – »Diese eine Stelle«

© Frederike Wetzels
© Frederike Wetzels

Wir hatten den Namen oben schon erwähnt: Auch Albrecht Schrader, der Helmut Zerlett Jan Böhmermanns, veröffentlicht dieser Tage ein neues Album – beziehungsweise, wenn Sie das hier lesen – wird er es schon getan haben. Es ist das zweite nach der 2017er LP »Nichtsdestotrotzdem« ,schon zuvor drang er mit der wunderbaren Line »Leben in der Großstadt findet in Büros statt« (aus der EP »In der Großstadt« von 2016) in die Gehörgänge popverliebter Hipster vor. »Diese eine Stelle« heißt das neue Album, inhaltlich verfolgt es den Weg Schraders vom Aufwachsen in Hamburg bis zum Entlassen aus der behüteten Obhut, von reflektiertem Schnöseltum, vom Verstecken des selbigen in anti-bourgeoisen, vermeintlich herrschaftsfreien Räumen. Musikalisch zeigt sich zwangsläufig die klassische Schule, ob Synths oder Pianos, alle Leitinstrumente müssen betastet sein. Das fernseh-humorige Element, das Schrader durchaus intus haben könnte, lässt er angenehmerweise völlig weg. Hier gibt es eher wenig zu lachen, hier gibt es aber einiges zu entdecken und noch viel mehr zu träumen.

»Diese eine Stelle« von Albrecht Schrader erschien bereits am 26.6.2020 via Krokant. Keine Österreich-Termine.

Detlef Diederichsen – »Volkskunst aus dem Knabengebirge«

© Thomas Fehlmann
© Thomas Fehlmann

Je älter man wird, desto länger kann man auf die eigene Vergangenheit schauen. Das Label Tapete schaut sich passend zum 60. Geburtstag von Detlef Diederichsen – Wave-Ikone, Vordenker, Hamburger Schule, Zimmermann und vieles mehr – noch einmal das 1982 auf Konkurrenz Schallplatten, wo übrigens auch tolle Gruppen wie Geisterfahrer und Die Kapazität auflagen, veröffentliche Solo-Album »Volkskunst aus dem Knabengebirge«. Nicht nur der Titel gestaltet sich mit Potenzial zur Verstörung, auch die Musik spekuliert zumindest mit der Macht der Verwirrung: Dadaistische Klangversätze aus einer Zeit, wo solche Musiken weniger kommerziell, sondern eher mehr artifiziell war. Das in gleich doppeltem Sinne, künstlich und künstlerisch: Zum einen jagt ein Drum-Computer durch die insgesamt fünfzehn Stücke, sonst wird es mit dem »Solo« ja auch schwer, zum anderen ist das teilweise pure Kunst, die sich auf den Liedern wie »Pissnelke 2000«, »Alle haben Krebs« oder »505 Christen spielen mit Gott« entspannt. Das ist eine ganz schöne Herausforderung!

»Volkskunst aus dem Knabengebirge« von Detlef Diederichsen erscheint am 3.7.2020 wieder, dieses Mal via Tapete.

Außerdem erwähnenswert:

Kmpfsprt – » Kmpfsprt«

(VÖ: 17.7.2020)

Die Kölner Post-Hardcore-Formation ohne Vokale erlaubt sich mit ihrem neuen, selbstbetiteltem »Album« ein gar ungewöhnliches Konzept: Auf ganzen zehn Minuten werden zehn Songs über die Heimatstadt durch die Lautsprecher geprügelt, recht formschön auf einer einzigen 7“ untergebracht. Dass man da recht schnell sein muss, erklärt sich von selbst: Auf 300 Stück limitierten die Chartstürmer ihr neues Werk– die Vorgänger »Intervention« (2016) »Gaijin« (2018) stiegen auf Platz 76 bzw. 86 ein. 

Sankt Otten – »Lieder für geometrische Stunden«

(VÖ: 31.7.2020)

Die äußerst produktiven Osnabrücker Krautrock-Spezialisten präsentieren mit dem wahnsinnig toll betitelten neuen Album bereits ihre elfte Langspielplatte seit 2011. Auch auf dem neuesten Wurf herrscht der Dualismus zwischen Mensch und Maschine, zwischen treibenden Beat und experimentellen Klängen, zwischen E und U – mit Tendenz zu E-Musik. (Video noch vom Vorgänger-Album.)

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