Eine Dekade, aber als Lebensgefühl – Was bleibt von den 2010ern?

Zehn Jahre sind entweder sehr lange oder sehr kurz. Wenn es um eine popkulturelle Analyse geht: unfassbar lang. Um eine erschöpfende Einordnung aller relevanten Erscheinungen und Geschehnisse zu liefern, hätten wir einen mindestens 2010-seitigen Sammelband herausgeben müssen. Stattdessen wollen wir in unserem Dossier eine feine Auswahl an Themen bearbeiten, die das vergangene Jahrzehnt genauso wie uns geprägt haben. Illustriert wurden alle Texte von Lisa Schrofner. Wo warst du, als die 2010er vorbei waren?

Das Populäre ist politisch – Vierte Welle Feminismus

von Theresa Ziegler

© Lisa Schrofner

In den Nullerjahren, als Serien wie »Verliebt in Berlin« und später »How I Met Your Mother«, durch und durch mit expliziter Frauenfeindlichkeit überzogen, als erfolgreiche popkulturelle Events galten, wären nur die wenigsten Personen des populären öffentlichen Lebens auf die Idee gekommen, sich als FeministInnen zu erkennen zu geben. Spätestens in der zweiten Hälfte der 2010er- Jahre gibt es fast keinen hippen Online-Shop für Mode oder Interieur mehr, der nicht mindestens ein Produkt mit der Aufschrift »Feminist« verkauft. Vor allem im englischsprachigen Diskurs wird die erneute Frauenbewegung als eigene Welle, als »Fourth Wave Feminism«, bezeichnet. Diese unterscheidet sich in ihren Forderungen dann doch etwas von den vorangegangenen Feminismus-Wellen. Eine davon: feministische Koexistenz verschiedener Lebensrealitäten. Die Kri- tikpraxis »alter« FeministInnen wie Alice Schwarzer an den Lebensentwürfen anderer Frauen, die nicht ihrer Interpretation emanzipatorischer Lebensweise entsprechen, wird als solche wiederum kritisiert und als in sich zutiefst unfeministisch bewertet. Schwarzer gibt ihren Status als relevante Ikone spätestens dann ab, als sie kopftuchtragende Frauen anschreit. Feministin – das kann heute eine selbstbestimmte Sexarbeiterin sein, die nie de Beauvoir gelesen hat, oder eine Gender- Studies-Absolventin, die hauptberuflich drei Kinder großzieht und sich ihre Vulva rasiert.

Check Your Privilege!

Relativ neu im breiten feministischen Diskurs ist auch das Konzept der Intersektionalität und die Offenlegung vielschichtiger Privilegien. Der/Die SchauspielerIn und Trans- AktivistIn Indya Moore, bekannt aus der Netflix-Serie »Pose«, ist einer der bekannteren Namen, die in unseren Instagram- und Twitter-Feeds Intersektionen von Doppelt- und Dreifach-Diskriminierungen sichtbarer machen. Themen wie das breite Spektrum sexueller Belästigung, Gender-Pay-Gap, körperliche Autonomie und toxische Maskulinität haben in den letzten Jahren alle beschäftigt – auf die eine oder andere Art. Mit der sogenannten »Gender-Diskussion« gräbt sich anhand der eigens algorithmisierten Bubbles ein Graben durch zwei entgegengesetzte Weltanschauungen. Heute halten wir #MeToo für einen alten Hut. In der Rückschau vergessen wir aber, dass wir vor Alyssa Milanos Tweet tatsächlich über vieles, was 2017 endlich ausgesprochen wurde, nicht geredet haben.

Ab wann ist man politische/r AktivistIn?

Viel, aber noch zu wenig geredet wird in feministischen Kreisen auch jetzt noch darüber, was es tatsächlich heißt, in einer derart komplexen Welt wie der heutigen, Feminismus zu denken und zu leben. Kann eine Feministin in einem Musikvideo mitspielen, in dem ein Rapper Rape Culture verharmlost? Inwiefern spielt Feminismus, sobald er so populär geworden ist, nur noch eine Rolle für die eigene Identität als woke Persona? Ab wann ist man politische/r AktivistIn? Kann ein Cis- Mann nur Feminist sein, wenn er nicht von sich selbst redet? Die Prämisse der Akzeptanz aller selbstbestimmten Lebensentwürfe ist in der Praxis nicht ganz einfach einzuhalten. Doch geht es nicht mehr darum, finale Antworten zu finden, sondern im Diskurs dazuzulernen. Und lernen tun wir alle sehr viel: Ob auf Twitter mit Stefanie Sargnagel oder Nicole Schöndorfer über das Patriarchat oder im Gespräch mit unseren FreundInnen über die eigenen Dating-Erfahrungen mit vermeintlich feministischen »Softbois«. Weltanschauungen sind vor allem innerhalb der eigenen Bubble nicht mehr geradlinig und die Gretchenfrage »Wie hältst du es mit dem Feminismus?« ist keine, die wir in einer 15-Sekunden-Insta- Story beantworten können.

Das gesamte Dossier zur Frage »Was bleibt von den 2010ern?« ist in der Ausgabe #178 erschienen.

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