Zehn Jahre sind entweder sehr lange oder sehr kurz. Wenn es um eine popkulturelle Analyse geht: unfassbar lang. Um eine erschöpfende Einordnung aller relevanten Erscheinungen und Geschehnisse zu liefern, hätten wir einen mindestens 2010-seitigen Sammelband herausgeben müssen. Stattdessen wollen wir in unserem Dossier eine feine Auswahl an Themen bearbeiten, die das vergangene Jahrzehnt genauso wie uns geprägt haben. Illustriert wurden alle Texte von Lisa Schrofner. Wo warst du, als die 2010er vorbei waren?
Ein Jahrzehnt im Zeichen des Bartes – Conchita Wurst und Eurovision Song Contest
von Bernhard Frena
Kaum zu glauben, dass Österreich zu Beginn dieses Jahrzehnts noch die Teilnahme am Song Contest verweigerte. Zwischen 2008 und 2010 musste der Grand Prix ohne österreichischen Beitrag auskommen. Nicht, dass dies besonders bemerkbar gewesen wäre: Schon in den Jahren davor war Österreich eher chancenlos, der letzte Finaleinzug gelang 2004. Der ORF gab deswegen prompt dem unfairen Abstimmverhalten in Osteuropa die Schuld für den Rückzug, auch wenn vermutlich Mangel an Geld und Publikumsinteresse eher die Gründe waren. 2011 erreichte Nadine Beiler nach dem Neustart dann das Finale für Österreich, obwohl sich wahrscheinlich kaum jemand an »The Secret Is Love« erinnern dürfte.
Ein tatsächliches Umdenken von ORF und österreichischem Publikum geschah wohl erst 2014. Verantwortlich für den plötzlichen Wandel von Apathie zu Euphorie war natürlich Conchita Wurst. Sie gewann den Grand Prix 2014 mit »Rise Like A Phoenix«, brachte ein paar Russen zur Bartrasur, sorgte für die Einführung der Wiener Ampelpärchen und wurde nebenbei zu einer queeren Ikone. Wie der titelgebende Phönix erhob sich Conchita aus der Asche der österreichischen Song-Contest-Geschichte. Sie lieferte nicht nur eine Gänsehaut-Performance sowie einen neuen Klassiker für das Repertoire der Song- Contest-Balladen – nicht zuletzt schaffte sie es eben auch, die Einstellung eines ganzen Landes umzudrehen. In Österreich war das Jahrzehnt vor ihr vor allem von ironischer Distanz zum Song Contest gekennzeichnet.
10 Mal »12 Points« im Schnelldurchlauf
Dem Song Contest haftete etwas Lächerliches und Altbackenes an. Für die meisten war er entweder Familienunterhaltung am Samstagabend oder ein Spottobjekt im Freundeskreis. Nach Conchita war plötzlich eine ernsthafte Begeisterung im Land zu spüren. Eine Begeisterung, die bis heute anhält und hoffentlich auch das nächste Jahrzehnt des Song Contests noch prägen wird.
Der Rest des vergangenen Grand-Prix-Jahrzehnts im Schnelldurchlauf: 2010 nuschelt sich Lena mit »Satellite« zum Sieg. 2012 liefert Loreen mit »Euphoria« den vermutlich letzten guten Beitrag aus Schweden. Seitdem versucht die schwedische Pop-Retorte offenbar den Song Contest bis zur totalen Blutleere auszusaugen. 2015 rettet selbst ein brennendes Klavier die österreichischen Vertreter The Makemakes nicht vor null Punkten. Australien nimmt seit ebendiesem Jahr auch am Song Contest teil – was regelmäßig für Verwirrung sorgt. 2016 singt Jamala über Vertreibungen von KrimtatarInnen – angeblich ohne Zusammenhang mit der Krimkrise. 2018 holt Netta den Song Contest mit einem der besten Beiträge nach Israel, und heuer Duncan Laurence von dort mit einem der fadesten in die Niederlande. Für den Start des nächsten Jahrzehnts heißt es also »Open Up« in Rotterdam!