Die Kunst des Spazierens: »Aimless Stroll – Analoge Fotografien der Stadt«

»Ich kann nur beim Gehen nachdenken. Bleibe ich stehen, tun dies auch meine Gedanken«, sagte bereits Jean-Jacques Rousseau. Und auch der griechische Philosoph Epikur versammelte sich mit seinen Anhängern im Garten, wo sie alle spazierend den wichtigen Fragen des (damaligen) Lebens nachgingen. Spazierengehen ist also nicht nur Bewegung für den Körper und die Möglichkeit, ein paar Fotos für Instagram zu machen, sondern auch: innehalten, den eigenen Gedanken freien Lauf lassen, die (vermeintliche) Unproduktivität genießen, die Stadt (neu) entdecken. In der Ausstellung »Aimless Stroll – Analoge Fotografien der Stadt« wird genau das fotografisch festgehalten.

© Suzana Murati »Wien«, 2017

In Anlehnung an das historische Special »Sehnsucht 20/21 – Eine kleine Stadterzählung«, das schon für die Diagonale 2020 geplant war, und frei nach dem Filmavantgardisten Alexander Hammid (»Aimless Walk – Spaziergang ins Blaue«) widmet sich die Ausstellung den auf Spaziergängen entstandenen Fotos der teilnehmenden Künstler*innen Anna Breit, Elodie Grethen, Niko Havranek, Nikola Hergovich, Susanna Hofer, Peter Jaunig, Laurie, Lukas Lerperger, Suzana Murati, Zara Pfeifer und Paul Pibernig. Sie alle sind Mitglieder von One Thousand and More Pictures. Die Künstler*innen-Plattform ist zugleich Crowdfunding-Projekt, bei dem eine Gruppe von Fotograf*innen das Ziel verfolgt, einem kunstinteressierten Publikum leistbare Prints ihrer analogen Fotografien anzubieten.

Diagonale-Aficionados wird der Name Paul Pibernig dabei vermutlich ein Begriff sein, ist er doch einer der Menschen, die die Diagonale fotografisch für die Nachwelt festhalten. Neben ihm ist auch Suzana Murati in der Schau vertreten, von der das obige Foto stammt. Die Fotografin und Filmemacherin (ihr Kurzfilm »Omega« ist auf ihrer Website zu sehen) lebt und arbeitet in Wien. In der Fotografie befasst sie sich mit unterschiedlichen Themen wie etwa Mode und Architektur, jedoch sind es meist ihre Umgebung und der gewöhnliche Alltag, die ihr Inspiration bieten. Sie fotografiert dabei analog und mit Kameras, die sie auf Flohmärkten findet.

Das Foto nebenan besticht durch seine Klarheit. Wir sehen eine Frau – sie trägt ein grün-weißes Kleid mit Blumen-Print und keine Schuhe. Wir wissen nicht, wohin sie geht oder woher sie kommt, wir sehen nicht einmal ihr Gesicht. Sie entzieht sich unserem Blick. Wir kennen weder sie noch ihr Umfeld, wir wissen nicht viel über den Kontext des Fotos. Wir sehen zudem: ein orange-braunes Gebäude, das das Flair eines Industriegebiets versprüht; auf dem Rasen neben der Frau wachsen keine Blumen. Auch sonst: Leere, das Gefühl von Flüchtigkeit. Unsere Gedanken schweifen ab – ganz passend beim Thema Spaziergang – und weiter, weiter zu dieser mysteriösen Frau.
Sie geht nach links, hinein in den Schatten, hinaus aus dem Licht – hinaus aus dem Fokus. Das Foto wirkt durch die beiden Schatten links und rechts zerschnitten, spielt dadurch auch mit den Erwartungen des Publikums. Egal, wie oft wir hinsehen: Die Frau wird sich nicht umdrehen.

Die im Rahmen der Diagonale stattfindende Ausstellung »Aimless Stroll – Analoge Fotografien der Stadt« ist von 2. Juni bis 2. Juli 2021 im Feinkost Mild (Stubenberggasse 7, 8010 Graz) zu sehen. Unsere Sonderausgabe zur Diagonale 2021 findet ihr hier.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...